„Wir müssen die Leute in den Lagern zuerst versorgen“

■ Interview mit Michèle Quintaglie, der Sprecherin des UN-Welternährungsprogramms WFP in Nairobi

taz: Die Repatriierung ruandischer Flüchtlinge aus Zaire ist auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Warum?

Quintaglie: Weil die Rebellenallianz die nötigen Genehmigungen nicht erteilt. Sie fürchtet, daß sich die Cholera unter den Flüchtlingen ausbreitet, wenn man die Kranken transportiert.

Gibt es auch eine politische Blockade?

Das ist eine schwierige Frage. Das UNHCR versucht, die Allianz zu überzeugen, daß sie sich um die Cholera keine Sorgen zu machen braucht. Aber im Moment hat Kisangani viele andere Probleme, die mit Unsicherheit zu tun haben, mit Spannungen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen.

Wie äußert sich das?

Ein Beispiel: Am Sonntag abend gegen 19 Uhr verließ ein Zug mit 120 Tonnen Lebensmitteln Kisangani. In Lula, am Punkt „Kilometer 7“ außerhalb der Stadt, stoppte die Rebellenarmee den Zug, weil die Strecke unsicher sei. Der Zug mußte also die Nacht über dort stehenbleiben. Gegen vier Uhr am Montag morgen sagten die Soldaten dem Zugführer, er könne weiterfahren. Als er die Lokomotive starten wollte, kamen Leute aus dem Wald und griffen den Zug an. Wir wissen nicht, wieviel geplündert wurde. Die Täter waren offenbar Einheimische. Ebenfalls gestern morgen, gegen zwei Uhr, wurde einer unserer Mitarbeiter an derselben Strecke in unserem Lagerhaus am „Kilometer 25“ von Gewehrfeuer geweckt. Er konnte wenig später fliehen und sah, wie die Leute mit unseren Lebensmittelsäcken herumliefen.

Sind das spontane Angriffe, oder versucht die Allianz, der UNO das Leben schwerzumachen? Gibt es möglicherweise Unstimmigkeiten innerhalb der Allianz?

Für solche Beurteilungen ist es noch zu früh. Aber es ist schon seltsam, wenn das Militär uns erst in Kisangani losfahren läßt und man uns dann nur sieben Kilometer weiter sagt, wir könnten nicht weiterfahren.

Was sagen Sie zu der Kritik, daß Sie hauptsächlich Flüchtlingen helfen und nicht der einheimischen Bevölkerung?

Es gibt etwa 80.000 bis 100.000 ruandische Flüchtlinge zwischen Kisangani und Ubundu. Vor zwei Wochen haben wir jedes Haus an der Bahnstrecke besucht und den Leuten versichert, wir würden sie für alles entschädigen, was sie eventuell verloren haben könnten, und wir haben ihnen gesagt, daß wir kleine Projekte für sie anfangen: etwa die Reparatur von Straßen oder Gemeinschaftsprojekte, bei denen Arbeit mit Lebensmitteln bezahlt wird. Wir haben der einheimischen Bevölkerung auch gesagt: Sicher braucht ihr auch etwas, aber in den Lagern sterben über 50 Leute am Tag. Also müssen wir die Leute in den Lagern zuerst versorgen. Und wenn wir einmal genug Lebensmittel da haben, helfen wir auch den Einheimischen. Nun haben wir eine Situation, wo unsere Lastwagen und Lagerhäuser geplündert werden, wo unsere Mitarbeiter überhaupt nicht mehr in die Lager können. Wir können also gar keine Lebensmittel mehr liefern, egal ob an Flüchtlinge oder an Einheimische.

Und was werden Sie nun machen? Es gibt ja offensichtlich ein Problem: Die Einheimischen fühlen sich benachteiligt.

Das ist doch immer so. Wenn Flüchtlinge irgendwo ankommen, sind sie von Hilfe abhängig, und man muß ihnen helfen, sonst geschieht das, was hier auch schon passiert ist: Die Flüchtlinge überfallen die Einheimischen. Hier gibt es Leute, die haben gerade zehn Quadratmeter Land und müssen von dem leben, was sie darauf anbauen. Wenn man ihnen das stiehlt, verlieren sie alles. Es ist eine sehr delikate Situation. Man muß also die Bedürftigsten zuerst versorgen und dann die Operation so schnell wie möglich ausweiten, um allen zu helfen.