„Mit dem Baikal scherze lieber nicht“

■ Maschinisten ohne Arbeit stellen auf dem riesigen See den raren Raubfischen nach

Aufgewühlt liegt der grauschwarze See. Der kleine Kahn schaukelt in den Wellen. Noch ein paar Wochen, dann bildet sich Eis. Zug um Zug hieven Sergej und Wladimir mit einer Seilwinde sechs Siebzigmeternetze aus 250 Meter Tiefe an Bord. Das Thermometer am Bootsschuppen hatte minus 19 Grad gezeigt. „Eine Höllenarbeit“ stöhnt Sergej. Der Winterwind schneidet wie Reißzwecken ins Gesicht. Wenig Fisch bisher, ein altes Kabel, eine Milchflasche. Erst im fünften Netz zappeln endlich Dutzende von Omul – ein Verwandter des Lachses, der bis zu 40 Zentimeter lang und über zwei Kilo schwer ist.

Die finsteren Mienen hellen sich ein wenig auf. Der Fang von einem knappen Zentner sorgt für Gewinn. 600.000 Rubel Umsatz, knappe 200 Mark – ein satter Monatslohn. Wir liegen an der Südküste des Baikalsees, anderthalb Meilen von Kultuk entfernt. Fünfzehn Minuten, wenn der „Progress“-Motor mit seinen 22 PS nicht wieder einmal streikt.

„Hier zu leben und nicht zu fischen – das heißt, umsonst zu leben“, sagt Sergej, Maschinist auf Kurzarbeit im Lokwerk des nahen Sljudjanka mit 20.000 Einwohnern. Zwei Drittel aller Fabriken in der Region stehen still, also gibt es auch für die Eisenbahn kaum Fracht. Seit sechs Jahren hat er für den Fischfang eine Lizenz, zahlt für jede Fahrt und jedes Netz offiziell umgerechnet gut 10 Mark. Rigoros geht das Fischereiamt aber nur mit den reichen Wochenendfischern aus Irkutsk um. Werfen sie ihre Netze schwarz und werden erwischt, dann kostet jeder Omul knapp fünfzig Mark Strafe. „Bei uns Einheimischen haben sie Mitleid. Viele Männer sind bei uns ohne feste Arbeit“, fügt Wladimir, ebenfalls Maschinist, hinzu.

1942 befahl Stalin, für die Front die Fangmenge von Omul, dem wichtigsten und begehrtesten Speisefisch des Baikal, um das Dreifache zu erhöhen. Nach dem Krieg behielt man die Quote bei. In den 60ern aber schlugen Wissenschaftler und Öffentlichkeit Alarm. Durchschnittsgewicht und -größe des Omul waren um 20 bis 30 Prozent gesunken. 1969–75 wurde ein totales Fangverbot erlassen, seit 1989 werden Lizenzen vergeben. Umweltschützer befürchten, die Fangmenge der letzten Jahre von durchschnittlich 40.000 Zentnern gefährde wieder die Population.

Der Omul wandert zum Laichen zudem über mehrere hundert Kilometer in die Flüsse, die in die burjatische Ostküste münden, und ist daher anfällig für Wildfischer. Bei Havarien im 35 Kilometer entfernten Zellulosewerk von Baikalsk treiben Hunderte von Fischen vergiftet an der Wasseroberfläche. Außerdem sind viele Flüsse durch Holzeinschlag und Industrie verdreckt.

Seit 1956 ist der Wasserspiegel um einen Meter gestiegen, weil in Irkutsk ein Staudamm gebaut wurde. Schon ein paar Dezimeter jährliche Schwankung haben verheerende Folgen für den Bytschka, der zur Hälfte die Nahrung des Omul ausmacht – seine unter den Ufersteinen abgelegten Eier sterben ab. In den Kriegsjahren bewahrte dieser Fisch die Leute von Sljudjanka und Kultuk noch vor dem Hunger. „Großmutter zog morgens mit dem Sieb bewaffnet an den Strand“, erinnert sich Sergej, „und kehrte bald darauf mit zwei vollen Eimern wieder heim.“

Endlich nähern wir uns wieder dem Ufer. So manchen Einheimischen haben die Wellen im sich tückisch drehenden und kreuzenden Wind verschluckt, erzählen die beiden mit ruhiger Stimme. Krebse fressen die Leichen der Ertrunkenen schnell, und die Knochen lösen sich in dem fast salzfreien Wasser auf. „Erst im Vorjahr hatten wir ein Leck. Windig war es wie heute. Wir haben wie die Weltmeister geschöpft und geschöpft. Beinahe wäre uns das Boot gesunken. Fünf Kilometer entfernt vom Ufer“, berichtet Wladimir. Seine zwei erwachsenen Söhne nimmt er nie mit ins Boot. Alkohol auch bei ruhigem Wellengang ist tabu.

„Mit dem Baikal scherze lieber nicht“, erklärt der Fischer. Nur im März und April, wenn die Netze über Nacht durch ein rechtzeitig angelegtes Loch im fast meterdicken Eis geworfen werden, kampieren die beiden an Ort und Stelle. Da darf dann auch das Fläschchen Wodka nicht fehlen. „Drei-, vierhundert Gramm genehmigen wir uns, mehr nicht“, sagt Sergej. Morgens warten die Netze. Volker Krampe