Auf ewig in der Erlebnis-Stadt

■ Wir hier in Berlin, dort der massenhafte Rest: Eine neue Tourismus-Initiative will die Hauptstadt attraktiver machen

Seit die Mauer nicht mehr steht, hat Berlin ein ernstes Problem. Die Touristen, die früher zu Hunderttausenden zum Grusel- respektive Hauptstadt-der-DDR-Besuch aufbrachen, sie fahren heute lieber woanders hin. Deshalb ist kürzlich eine Initiative ins Leben gerufen worden, um die „ganz vielen unentdeckten Schönheiten und Abenteuer“, die „die Stadt bereithält“, ins Bewußtsein der Restmenschheit zurückzuholen. Alles an der neuen Organisation läßt auf den Einsatz ungebremster Kreativität schließen. Ihr Name: „Erlebnis Berlin“.

Die Mitglieder der Vereinigung, darunter eine Brauerei, eine Hotelgruppe, ein Stadtrundfahrt-Unternehmen, das Theater des Westens, das Renaissance-Theater und die Neuköllner Oper, haben sich schön was vorgenommen: Sie wollen dem „allgemeinen Lamentieren über die schlechten Zeiten, die nicht vorhandenen öffentlichen Mittel etc. ihr Engagement und ihre Phantasie“ entgegensetzen. Am Anfang war folgende Überlegung: Die kulturellen Angebote in der Stadt sind zwar nicht schlecht, aber insgesamt gesehen ist Berlin für Auswärtige doch ein bißchen unübersichtlich. Anliegen von Erlebnis Berlin ist, „Erlebnis- Packages“ anzubieten, eine Art Rundumversorgung mit wirklich unerhörten Angeboten.

Eines dieser der Ordnung halber durchnumerierten Pakete („Erlebnis No.1“, Erlebnis No.2“ usw.) ist die Boomtown-Tour, eine Rundfahrt durch die „größte Baustelle der Welt“ mit anschließender Besichtigung des Berlin-Modells im Staatsratsgebäude sowie einem Besuch der Info-Box am Potsdamer Platz. Oder zum Beispiel die „Pralles Leben“-Tour: Zuerst ein Musical im Theater des Westens, dann ein „kulinarischer Zwischenstopp“ im Berliner Biersalon mit „seiner typischen Atmosphäre“. Damit nicht genug: Danach geht es in das von Berlin-Besuchern bislang völlig unentdeckten Varieté Chamäleon, „wo Ihnen das pralle Leben ganz besonders entgegenprallt“. Eine ähnliche Handschrift verrät Erlebnis No.3, „die Theaterglückskugel“: Der Abend beginnt mit einem „rasanten Musical-Erlebnis“ im Theater des Westens, später „begleitet Sie die Glücksgöttin Fortuna“. Wohin? In die Spielbank Berlin. Hut ab: Darauf muß man erst mal kommen.

Gespür für Realsatire beweisen auch die Leute von der Neuköllner Oper. Vorhang auf für „Erlebnis No.6 – Mit Virchow in die Oper“: Die Fahrt führt zunächst in das Virchow-Krankenhaus, „eine der größten und modernsten Kliniken Europas“, wo „Experten des Virchow-Teams aktuelle Themen“ wie Gentechnik oder „So arbeitet eine Blutbank“ erläutern. Im Anschluß daran geht es ins Stammhaus der Neuköllner Oper in die Vorstellung von Molières „Der eingebildete Kranke“. Wer Blutspender wird, dem spendiert Erlebnis Berlin zwei Theaterkarten. Ulrich Clewing