Reiseradler, komm, schlaf bei mir...

■ Seit zehn Jahren können Fahrradtouristen unterwegs umsonst übernachten. Der „ADFC-Dachgeber“ macht's möglich aber nur für diejenigen, die selbst drinstehen.

Als Wolfgang Reiche von seiner vierjährigen Radtour rund um die Welt zurückkam, hatte er viel zu erzählen. Zum Beispiel schwärmte er von der in Australien erlebten Gastfreundschaft. Man hatte ihm ein Adressenverzeichnis zur Verfügung gestellt, eine Liste von Fahrradfreunden, die anderen Bikern ein Quartier anboten. Jede Übernachtung war „umsonst und spannender als in jedem Hotel“, erinnert sich Reiche an die Zeit vor 15 Jahren. Heute ist er Sprecher des ADFC-Fachausschusses Fahrradtourismus und Herausgeber des ADFC-Dachgebers, auch „Reiseradlers Übernachtungsverzeichnis, RÜF“ genannt.

Der Bremer begann 1988 mit einer Sammlung von 300 Adressen, vorgelegt in einem schmalen Heft. Es wurde zum Bestseller. Und jedes Jahr dicker. Die diesjährige Jubiläumsausgabe enthält die Adressen und Telefonnummern von 2.600 Einzelpersonen und Familien aus ganz Deutschland. Trotz des Erfolges ist das RÜV eine intime Angelegenheit geblieben. Es wird nirgendwo öffentlich verkauft, nur wer drinsteht, darf es besitzen und benutzen. Der ADFC- Dachgeber beruht wie das – mittlerweile eingeschlafene – australische Vorbild auf Gegenseitigkeit und Freiwilligkeit. Alle im Verzeichnis aufgeführten Menschen, die „Dachgeber“, sind bereit, jedem anderen aus dem Heft eine Unterkunft für die Nacht zu gewähren. Zum Nulltarif. Dafür dürfen sie's dann selbst bei jeder der aufgelisteten Adressen versuchen. Sofern sie mit dem Radl kommen. Wolfgang Reiche, der den Dachgeber seit einem Jahrzehnt nahezu im Alleingang managt, führt Menschen zusammen. „Im Durchschnitt kommen zwei Übernachtungen auf eine Adresse“, sagt er, „so daß der Dachgeber jährlich an die 6.000 Übernachtungen vermittelt.“ Was manche „supernett“ finden, wie er aus einem Dankesbrief zitiert: „Wir haben Salsa getanzt, gesungen und viel geklönt.“

Für den RÜV-Erfinder nichts Erstaunliches. Die Mehrheit der Gastgeber seien offenherzige Charaktere: „Die meisten bringen fremden Radlern, die sie überhaupt nicht kennen, viel Vertrauen entgegen.“ Wer seine Wohnung als Festung versteht, wird das indes kaum nachvollziehen können. „Irgendwann hat mal jemand gesagt, ich betreibe ein verkapptes Eheanbahnungsinstitut, der hat das negativ gemeint“, fällt Reiche ein. Nein, zu einer Hochzeit sei er noch nicht eingeladen worden. „Aber Freundschaften sind bestimmt schon viele entstanden. Und manche, die sich über die Übernachtungen kennengelernt haben, sind später gemeinsam auf Radtour gegangen.“

Die Reisreradler zieht es hauptsächlich in die bekannten und attraktiven Ecken. Wer dort nicht wohnt, könnte die Erfahrung machen, daß sein Quartier nicht gebraucht wird. Die Meinung eines dieser – allerdings seltenen – Frustrierten ist im neuesten RÜV dokumentiert. „Es gibt zu wenige Radfahrer – seit vier Jahren warte ich auf radelnde Übernachtungsgäste, leider bislang ohne Erfolg.“ Wie sieht es in Berlin aus, vor allem, wenn man ein Quartier in bester Kiezlage zu bieten hätte? Full house, 365 Tage im Jahr? Das glaubt Wolfgang Reiche nicht: „Große Städte haben eine ganze Menge Adressen zu bieten. Die Belastung für den einzelnen kann da geringer sein als in Orten mit nur ein oder zwei Gastgebern, vor allem, wenn diese Orte touristisch interessant sind.“ Im übrigen könne jeder, dem es zu bunt wird, einfach „Sorry“ sagen: Einen Rechtsanspruch auf Übernachtung gibt es nicht.

Doch das Funktionieren des Dachgebers über ein ganzes Jahrzehnt deutet darauf hin, daß die wenigsten sich verweigern. Wer kommt, wird untergebracht. Damit das in den nächsten Jahren so weitergeht, hat die evangelische Kirchenleitung Sachsens einen Artikel über Reiches Projekt mit einem mahnenden Petrus-Wort überschrieben: „Seid gastfrei untereinander ohne Murren.“ Helmut Dachele

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