Wenn keiner mehr guckt

■ Vor vier Wochen wurde die Wagenburg am Bethaniendamm durch die Polizei geräumt. Die BewohnerInnen wurden in alle Winde verstreut. Nun sammeln sie sich langsam wieder

Seit vier Wochen ist der Bethaniendamm leer. Die 500 Meter Straßenfläche zwischen Adalbertstraße und Thomaskirche, zwischen Luisenstädtischem Kanal und dem Bethaniengelände liegen da wie kurz nach dem Mauerfall – verlassen und mit ungewisser Zukunft. Vorsorglich ist alles eingezäunt. Nur ab und zu schiebt sich ein Spaziergänger mit Hund durch die Absperrungen oder benutzt ein Radler den Damm als Abkürzung zwischen dem Mariannenplatz und Engelbecken. Die vernarbte Straßendecke dämmert in einer Zeitspalte zwischen Front- und Hauptstadt, die so typisch ist für viele ehemalige Mauerabschnitte.

Anne hat Glück gehabt. Ihr kleiner bunter Bauwagen war der einzige, der während der Räumung durch Intervention von Pfarrer Müller auf das benachbarte Kirchengelände gezogen werden konnte. Während der Ostertage trafen sich hier einige der heimatlos gewordenen Wagenburgler. Aber nach Ostern mußte der Wagen auch den Gemeindeparkplatz räumen.

Anne hatte noch einmal Glück. Sie fand einen Trecker, der ihr den Wagen in das Rollheimerdorf in der Wuhlheide zog. Gleich rein, bis in die hinterste Ecke zu den Punks. Kalle ist mitgegangen. Die beiden Hunde auch. Gustav wollte nachkommen. Die Räumung hatte ihnen wieder zu Bewußtsein gebracht, was sie schon nach dem Rausschmiß aus der East Side so erlebt hatten: daß sie zusammengehören und zusammenhalten sollten. Aber eine Woche später war Gustav noch immer am Bethaniendamm. Er hat inzwischen eine Spalte hinter einer Garage gefunden, wo er sich seinen Pennplatz eingerichtet hat. Nun bleibt er doch lieber erst mal hier, in der Nähe der Suppenküchen und der Spätverkaufsstellen. Maxi hat irgendwo im Prenzlauer Berg eine kleine Wohnung, aber es zieht sie doch wieder auf die Straße. Einen neuen Bauwagen hat sie allerdings noch nicht gefunden, so ist sie mal hier und mal da zu Gast.

Schrader war nach der Räumung von der Bildfläche verschwunden. Gegen ihn lief ein Haftbefehl. Er hätte zwar rechtzeitig verschwinden können wie andere auch. Aber seine Wut auf die Bullen war größer als seine Angst, die Freiheit zu verlieren. So hat er so lange getobt und geschimpft, bis er festgenommen wurde. Vor zwei Wochen ist er dann wieder aufgetaucht.

Dorothea und Ameli, die beiden Schwestern aus einer Ordensgemeinschaft, hatten es während der Räumung fast noch geschafft, ihren Wagen aus den Klauen der Abschleppwagen zu befreien. Pfarrer Müller war einverstanden, daß er wie Annes Wagen erst mal auf den Gemeindeparkplatz gezogen wurde.

Aber der Einsatzleiter bestand auf Schwanebeck, und die beiden Schwestern lehnten Sonderkonditionen aufgrund ihres Status ab. Sie haben Unterschlupf in der Wohnung von zwei Mitschwestern gefunden, wollen aber zurück in ein Wagendorf, denn „dort sind die Menschen lebendig“. Sie sind die einzigen, die ihren Wagen durch Zahlung von fast 500 Mark in Schwanebeck ausgelöst haben, und hoffen nun, das Geld auf dem Klageweg zurückzubekommen. Aber selbst Szeneanwälte winken ab.

Mittlerweile ist ihr Bauwagen auch in der Wuhlheide. Aber einfach war das nicht. Wo Anne noch so durchschlüpfen konnte, stellten sich vor den großen Bauwagen der Schwestern plötzlich formelle und informelle Platzinstanzen quer, die überzeugt und überwunden werden mußten. Nach einigen Gesprächen durften Dorothea und Ameli einziehen. Die Kosten: 80 Mark Miete und 50 Mark für Strom und Wasser. Man spekuliere wohl auf den ordnenden Einfluß der Schwestern auf diesen Teil des Rollheimerdorfes, erzählt Dorothea verärgert.

Irene sitzt mit ihren beiden schwarzen Hunden noch immer oft in der Nähe des Bethaniendammes. Sie schläft mal hier und mal da. In ihrem Bauwagen in Schwanebeck hat sie noch eine gute Matratze. Aber wie soll sie die Gebühren bezahlen? Kann man ihr ihr Eigentum überhaupt vorenthalten, nur weil sie die Abschleppkosten nicht zahlen kann?

Irene denkt über eine einstweilige Verfügung nach. Am nächsten Tag will sie zum Sozialamt gehen. Mal sehen, vielleicht können die ihr helfen. Könnte sie denn überhaupt nachweisen, daß das ihr Wagen ist? „Na, die Bullen gehen jedenfalls davon aus, daß das mein Wagen ist!“ Irene zeigt ein Amtsschreiben, das sie während der East-Side-Räumung erhalten hat und in dem sie von den Ordnungsbehörden als „Besitzerin des schwarzweißen Wagens mit der Fahrgestellnummer ...“ angesprochen wird. Das müßte doch eigentlich reichen!

Es reicht nicht. Irene weiß nicht, daß Dorothea ihren Wagen in Schwanebeck gesehen hat – bereits demontiert und im wahrsten Wortsinn „plattgemacht“. Außerdem hat der Abstellplatzbesitzer die Abholbedingungen für das Eigentum der Bauwägler um ein weiteres verschärft. „Wenn die ihre Gebühren bei der Polizei bezahlt haben und der Wagen verkehrstauglich ist, können die ihn rausziehen.“ Aber Sachen rausholen dürfen sie trotzdem nicht. „Die lassen mir den Schrottwagen einfach hier stehen. Und für die Verschrottung muß ich dann aufkommen.“ Also entweder den gesamten Wagen oder gar nichts.

Die Wagen in Schwanebeck sind verloren. Aber es gibt so viele Bauwagen in der Stadt und so viele Plätze mit Baustellen, auf denen Bauwagen wenigstens eine Zeitlang den Anschein der Legalität wahren können. „Wir haben für 5.000 genehmigungspflichtige Baucontainer auf öffentlichem Straßenland im Bezirk Mitte ganze zwei Mitarbeiter“, sagt der Leiter des Tiefbauamtes Mitte, Lexen. Da dauert es Monate, bis ein illegal abgestellter Container oder Bauwagen auffällt – wenn das überhaupt passiert.

Maria hat sich schon einen neuen Wagen besorgen können. Er steht gar nicht weit vom Bethaniendamm. Irene und Maxi sind dort oft zu Gast. Gleich daneben steht ein anderer Wagen, dessen bunte Aufschriften den Anwohnern gut bekannt sind. Nanu? Schraders Wagen ist doch in Schwanebeck gelandet? – Das ist Schraders Zweitwagen; er hatte ihn kurz vor der Räumung des Bethaniendamms einfach auf die andere Seite, auf das Stück jenseits der Adalbertstraße gezogen. Dort hat er sich vor den Augen der Ordnungskräfte von einer verdächtigen Behausung krimineller Elemente in einen harmlosen Bauwagen zurückverwandelt. Und nun ist er wieder da. Imma Harms