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Lesefreaks im Netz

Modellprojekt: In einer Bibliothek in Luckenwalde können Kids seit neuestem im Internet surfen  ■ Von Kathi Seefeld

Der 15jährige Wanja Schulz und sein Kumpel Berko Gehrke hocken seit gut zwei Stunden vor dem Bildschirm. „Wir chaten“, erklärt Wanja, und Berko haut eine Nachricht in die Tasten. „Ich grüße alle Extra-Chaoten“, flimmert es über den Bildschirm in der Stadt- und Kreisbibliothek in Luckenwalde. Wanja und Berko sind nicht mehr Wanja und Berko. Sie sind jetzt „prendergast“. „Den Namen hat sich Wanja ausgedacht“, meint Berko entschuldigend.

Kathrin und Anna wollen mal dazwischen. Eine Freundin hat ihnen die Internet-Adresse der Webside der Back Street Boys gegeben. Doch die Angelegenheit scheitert schnell, weil die zwei keine E-Mail- Adresse angeben können. Entäuscht ziehen die beiden Teens von dannen, die Jungs übernehmen erneut das Ruder.

Eine neue Zeile baut sich auf dem Bildschirm auf. Einer der Chat-Partner teilt mit: „Ich langweile mich.“ Immer neue Typen mit ihren Phantasienamen „betreten den Raum“. Nach drei Stunden sind es 10, 12 Partner, die auf der Chat-Ebene ihre Geistesblitze absondern. „Es ist einfach nur Geikel“, sagt Wanja selbstbewußt. Wer genug hat, „verläßt den Raum“.

Es geht um nichts, man sagt Dinge, die man sonst vielleicht nicht sagen würde, liest irgendwelche mehr oder weniger witzigen Sprüche von Leuten, die man nicht kennt und „ja auch gar nicht kennenlernen will“, meint Berko. Allerdings war, wer sich als Schüler im brandenburgischen Luckenwalde auf den Datenautobahnen bewegen wollte, bis Februar diesen Jahres auf den heimischen Computer angewiesen. „Bei mir“, so Wanja, „war das kein Problem. Mein Vater arbeitet in einer Softwarefirma. Ich sitze schon seit drei Jahren zu Hause am Computer.“ Berko allerdings hat keinen eigenen PC und erst recht keinen Internet-Zugang. Daß er jetzt dennoch – und fürs erste sogar kostenlos – surfen kann, hat er Elka Freudenberger zu verdanken.

Die Chefin der Luckenwalder Stadtbibliothek hatte einfach laut „hier“ gerufen, als das Potsdamer Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur ein Pilotprojekt starten wollte. Nicht nur in Cafés oder Kneipen sollte man nach dem Willen von Minister Steffen Reiche am Computer per Mausklick in den neuesten Fachpublikationen der Universität von Chicago stöbern können oder via Bildschirm mit Gesprächspartnern aus der ganzen Welt kommunizieren. Das öffentliche Medienangebot in Brandenburg sollte erheblich erweitert werden. So entschloß man sich, eine ausgewählte Bibliothek mit einem Internet-Zugang auszustatten. Genau das war für Elka Freudenberg ein hinreichender Grund, Interesse zu zeigen. „Man kann über die gegenwärtigen Nutzungsmöglichkeiten des Internet sicher geteilter Meinung sein. Nicht aber über die Möglichkeit, es öffentlich nutzen zu können“, so die Leiterin der Bibliothek. Ein Angebot wie dieses helfe beim Umgang mit den neuen und sicher auch zukunftsbeherrschenden Medien soziale Unterschiede abzubauen. „Völlig unbürokratisch“, konnte sich das Wissenschaftsministerium rühmen, „hat das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Computer, Bildschirm und Anschluß bereitgestellt.“

Die MitarbeiterInnen der Bibliothek belegten einen Crashkurs, können Internet-Einsteigern mittlerweile auch Tips und Hinweise geben. Dennoch sind viele der vor allem jugendlichen Nutzer mit dem Medium längst bestens vertraut. „Schüler recherchieren hier für Hausarbeiten, stoßen auf Informationen, die sie in unserem Bücherbestand nicht finden würden.“ Allerdings hätte sich auch schon mal jemand bei einem Pornoanbieter verirrt. Mit diesen Sorgen ist die Luckenwalder Kreisbibliothek bekanntlich nicht allein. Nicht zufällig werde, so Elka Freudenberg, derzeit über ein Multimediagesetz debattiert. Das brandenburgische Bildungsministerium setzte sich erst Anfang der Woche auf einer Tagung mit Problemen der neuen Medien und dem Jugendschutz auseinander.

Auch Armgard Stenzel, Sachgebietsleiterin Kulturförderung, sieht die Entwicklung gelassen, den guten Ruf der Bibliothek im Kreis keineswegs als gefährdet an und freut sich auf die spannenden Diskussionen der Zukunft. Sie ist sich sicher, daß bei aller Multimedia- Euphorie in Luckenwalde auch jene Bibliotheksnutzer nicht vernachlässigt werden, „die kommen, um sich einfach ein paar Leseanregungen zu holen oder Hilfe bei der Suche nach einem Buch benötigen“. Daß das Internet-Pilotprojekt auch dann noch weiterlaufen soll, wenn die Übernahme der Telefongebühren für ein halbes Jahr durch das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik ausläuft, hält Stenzel für sinnvoll.

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