Frisch, frei, fröhlich, fromm

Kurzer Klimmzug am Turnvater Jahn  ■ Von Gabriele Goettle

Es wurde gesagt, daß er es sei, „der die höchst gefährliche Lehre von der Einheit Deutschlands aufgebracht habe“.

(in einem Bericht der Bundestagskommission, 1848)

Karl Ewald Hasse, Mitte des 19. Jahrhunderts ein bekannter Arzt für Gehirn- und Nervenkrankheiten, berichtet in seinen Lebenserinnerungen:

„Durch meinen Verkehr mit Mitgliedern der Burschenschaft wurde mir die Bekanntschaft mit dem alten Turnvater Jahn zuteil. Dieser lebte zu jener Zeit, polizeilich interniert, zu Freyburg an der Unstrut, wo er sich häuslich einrichtete. Um Einkäufe zu machen, kam er während der Michaelismesse nach Leipzig. Damals fielen die Herbstferien der Universität mit der Dauer der Messe zusammen, und nur wenige Burschenschafter waren in der Stadt zurückgeblieben, um den werten Gast zu begrüßen. Da folgte ich gern der Aufforderung, mich zu beteiligen, und schloß mich auch den drei Burschen an, die Jahn auf der Heimreise bis über die sächsische Grenze das Geleit geben wollten. Natürlich war es eine Fußwanderung; Jahn, im altdeutschen Rock mit über den weißen Kragen wallendem Vollbart, trug in der rechten Hand den Ziegenhainer, in der Linken eine soeben auf der Messe gekaufte Astrallampe, die er begreiflicherweise in seinem Ranzen nicht hatte unterbringen können. Es kostete uns Mühe, ihm das Tragen der schweren Lampe wechselseitig abzunehmen. Jahn war in diesem Aufzug eine auffallende Erscheinung, und namentlich der Vollbart, eine damals ganz ungewöhnliche Manneszierde, trug ihm beim Durchmarsch durch Markkranstädt von seiten der Straßenjugend den Zuruf ein: ,Da kommt der Jude!‘ Am Schwedenstein bei Lützen wurde haltgemacht. Jahn versäumte nicht, uns hier eine patriotische Ansprache zu halten, nach welcher wir uns verabschiedeten. Ob der rüstige alte Turner die anstregende Aufgabe, die schwere Astrallampe in der Hand bis nach Freyburg zu tragen, glücklich gelöst hat, haben wir leider nicht erfahren.“

Zu diesem Zeitpunkt war Jahn etwa 60 Jahre alt. Eine Feuersbrunst hatte gerade Wohnung, Manuskripte und Bibliothek in Asche gelegt. Den erlittenen großen Verlust deckte eine öffentliche Sammlung, die es ihm ermöglichte, sich ein eigenes Haus am Schloßberg in Freyburg zu bauen. Und so erging es Jahn eigentlich oft in seinem Leben, Unheil wirkte sich als Vorteil aus. Friedrich Ludwig Jahn, 1778 als Sohn eines Pfarrers in der Priegnitz geboren, erhält bis zum dreizehnten Lebensjahr Hausunterricht von seinem Vater, kommt dann in die Schule und versagt sofort. Er ist aufsässig, stört den Unterricht, bekommt die schlechtesten Noten und läuft schließlich weg. Später besucht er verschiedene Universitäten, teils unter falschem Namen, teils unter der Vortäuschung, er habe das Zeugnis der Reife. Vom Vater, der froh ist, daß doch noch was aus dem Sohne wird, erhält er finanzielle Unterstützung zum Studium der Theologie. Statt theologische Vorlesungen zu besuchen, widmet er sich aber lieber Studien zur Reinerhaltung und Verbesserung der deutschen Sprache sowie dem Problem, wie der Patriotismus am sichersten zu befördern sei. Darüber gerät er mit den studentischen Landsmannschaften in Streit (eine Vorform der Burschenschaften, deren geistiger Vater Jahn später wird) und lebt deshalb eine Weile in einer Höhle bei Giebichenstein. An einen ordentlichen Universitätsabschluß war aus all diesen Gründen nicht zu denken. Der Vater stellt die Zuwendungen ein, und der junge Taugenichts hält sich herumwandernd mit diversen Hauslehreranstellungen über Wasser, wobei er bereits durch Anlockung und spielerische Ertüchtigung großer Knabenschaften auffällt. 1806 versucht er ins preußische Heer einzutreten, um am Kampf gegen Napoleon teilzunehmen. Er erreicht es wandernd, aber erst nach der Schlacht bei Jena und flüchtet mit den versprengten Resten des geschlagenen Heeres bis Lübeck. Die folgenden Jahre verbringt er teils wandernd, teils an seinem „Deutschen Volkstum“ schreibend. Er wandert auch nach Schnepfenthal zum vielbeachteten Landeserziehungsheim des Pädagogen Salzmann, wo er sich besonders für den Gymnastikplatz und die diversen Gerätschaften und Freiübungen interessiert. Von Guts Muths, dem Urheber, erfährt er alles über Anwendung, Wert und Wirkung der Leibeserziehung.

Mit 31 Jahren übersiedelt Jahn nach Berlin, findet eine Stelle als Hilfslehrer am Gymnasium und wird, da ihm die regulären Prüfungsvoraussetzungen fehlen, zu einer Sonderprüfung seiner Eignung zum Lehramt zugelassen. Er fällt durch. In einem ausführlichen Gutachten der Professorendeputation des Kulturministeriums werden ihm gewaltige Bildungslücken in fast allen Fächern bescheinigt, die er zwar mit Schnelligkeit und Originalität zu überbrücken suche, die ihn aber für ein Lehramt am Gymnasium nicht befähigen. Neben den einzelnen Kenntnissen zeige er aber auch im allgemeinen: „Einen Mangel an philosophischem Sinn, welcher sich besonders darin äußerte, das alte Urteile und Begriffe ganz in das Unbestimmte gingen, so daß ihnen eben so viel einseitiges und schiefes als wahres und richtiges beigemischt war; daher bemerkte man deutlich, daß der Kandidat nicht die Fähigkeit besitze, eine Reihe von Begriffen aus einem Punkte abzuleiten, oder dahin zu vereinigen. Aus diesem Grunde erhielten alle Äußerungen einen schwankenden Charakter, und indem Hauptsachen in ihrer Bedeutung verkannt wurden, traten Nebensachen unverhältnismäßig hervor, also, daß alle Äußerungen mehr das Gepränge der Willkürlichkeit und des Einfalles, als der durch philosophische oder historische Begründung hervorgebrachten Klarheit und Sicherheit erhielten.“ Das Gutachten ist von Friedrich Schleiermacher unterschrieben.

1810 erscheint Jahns Hauptwerk „Deutsches Volkstum“, ein Sammelsurium seiner wichtigsten Gedanken über Volk, Staat, Sprache und Erziehung, grob zusammengeschustert aus Anleihen bei Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ und vielen anderen Texten, unter reichlicher Zugabe rassistischer und antisemitischer Ausführungen in der Art: „So wird die preußische Landwehr noch nie geklopft haben, als im Gottesgericht wieder Junker, Juden, Gauner, Gaukler und Garden“, oder: „Es versteht sich selbst, daß jeder echte Mann seinen künftigen Kindern eine Mutter aus eigenem Volke zu geben bemüht ist. Jede andere Ehe ist tierische Paarung ohne Gatten. Wer mit uneingebürgertem Weibe Kinder erzeugt, hat Vaterland und Vaterschaft verscherzt.“ Und das Vaterland selbst verscherzt sich auch alles, durch die Liebe zu „cosmopolitischen Ideen“ und französischer Sprache und Sitte: „Du warst schon längst, dir unwissend, durch eine fremde Sprache besiegt, durch Fremdsucht ohnmächtig, durch Götzendienst des Auslandes entwürdigt. Nie hätte dein Überwinder so vielfach in einem anderen Lande gesiegt, wo die Vergötterung seiner Sprache nicht mitgefochten.“ All das steht harmonisch vereint neben dem Wunsch nach deutscher Einheit, Abschaffung der Adelsprivilegien, Bildung eines „volkstümlischen Heer- und Staatswesens“, Beseitigung von Leibstrafe und Knechtschaft. Dessen Brisanz verliert sich aber unter dem Übergewicht der anderen Ausführungen sehr.

1811 eröffnet Jahn seinen berühmten Turnplatz in Berlin auf der Hasenheide, der bald großen Zulauf hat. Die Ideen für Platzgestaltung und Geräte und die Art der Übungen übernahm er größtenteils von Guts Muths, aber auch von den Philanthropen. Nur für einige Abwandlungen und die Bezeichnung der Leibesübungen mit dem Wort Turnen (von dem Jahn steif und fest behauptete, es sei ein urdeutsches) läßt sich eine Vaterschaft nachweisen. Daß sein Turnen eine solche Aufmerksamkeit erregt und wenige Jahre später auch zahlreiche Anhänger in Rußland und Amerika findet, verdankt sich der Bestimmung, vaterländische Wehrsportübung zu sein, und zwar nicht für Angehörige des Militärs, sondern für den Bürger. 1813, versehen mit guter Kondition, verläßt Jahn als einer der ersten Berlin und meldet sich als Kriegsfreiwilliger in Breslau, wird Werber für das Lützowsche Freikorps und ist während des Krieges meist agitatorisch tätig. Viele seiner Turner sind ebenfalls Freiwillige und 1815 in der Schlacht bei Waterloo dabei. Ein Jahr später kommt Jahns „Deutsche Turnkunst“ heraus, ein Gemeinschaftswerk von seinem Schüler Eiselen und ihm. Gleichzeitig gründet sich in Jena die „Urburschenschaft“, als deren geistiger Vater Jahn gilt. Viele der Burschenschafter sind ehemalige Turner von der Hasenheide und Teilnehmer am Befreiungskrieg. Damit beginnt ein enormer Aufschwung des Jahnschen Turnens, überall entstehen Turnplätze, gegründet von Burschenschaftern, bald spricht man vom Burschenschaftsturnen. Die Körperertüchtigung für „Ehre, Freiheit, Vaterland“ erfreut sich auch bei vielen Eltern und Professoren großer Beliebtheit. 1817 organisieren zwei Schüler Jahns das Wartburgfest und auch, in Absprache mit ihrem Meister, die abschließende Bücherverbrennung, bei der unter anderem der „Code Napoleon“ den Flammen übergeben wurde (und zu den Worten: „Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Judentum und wollen über unser Volkstum und Deutschtum schmähen“ das Werk eines jüdischen Autors). Dieses merkwürdige Nebeneinander von Freiheitsliebe und fanatischer Engstirnigkeit, nationalistisch übersteigert, wird von Metternich mißtrauisch beobachtet, wobei unklar bleibt, was den größeren Verdacht erregt. Die Ermordung Kotzebues durch einen Turner und Burschenschafter gibt 1819 den Vorwand für die sogenannte Demagogenverfolgung. Jahns Turnplatz wird geschlossen und unbrauchbar gemacht, ihn selbst verhaftet man und sperrt ihn ins Gefängnis. 1820 wird in Preußen ein allgemeines Turnverbot erlassen und mit polizeilicher Strenge durchgesetzt. Es bleibt 22 Jahre lang in Kraft. Ebenso sorgt Metternich für ein Verbot der Burschenschaft und die Kontrolle der Presse.

Die Untersuchungen im Prozeß gegen Jahn führen wegen frecher Äußerungen und Demagogentums zur Verurteilung zu zwei Jahren Festungshaft. E.T.A. Hoffmann, der sich als Schriftsteller über Jahn lustig gemacht hatte, berichtet in seiner Eigenschaft als Rat des königlichen Kammergerichtes in Berlin über den Prozeß und gibt eine eigene Beurteilung des Angeklagten, der historischen Ereignisse und des Schuldvorwurfs ab. Er charakterisiert Jahn so: „Er ist, wie aus allem, was er begann, klar hervorgeht, heftig, leidenschaftlich, wider seine Gegner erbittert und, was das schlimmste scheint, mit sich selbst, mit seinen Ansichten und Meinungen nicht im Klaren, wie dies seine Vorlesungen und Schriften darthun. Dabei hascht er nach Paradoxen, nach blendenen Witzwörtern und bemüht sich, seinem Ausdruck eine alterthümliche Energie zu geben, die, oft beinahe im Stil der Bibel, ihre Wirkung auf die Jugend um so weniger verfehlen kann, als auch durch eine gewisse Frömmelei sich unsere Zeit charakterisiert.“

Daß ein ultrakonservativer Reichspatriot wie Jahn verdächtigt wird, gefährlicher Vordenker und Anführer einer Emanzipationsbewegung zu sein, verdankt sich mehr der politischen Lage als seinen Vorstellungen. In seiner „Deutschen Turnkunst“ verlangt er: „Daß des Deutschen Knaben und Deutschen Jünglings heiligste Pflicht ist, ein Deutscher Mann zu werden und geworden zu bleiben, um für Volk und Vaterland kräftig zu würken, unsern Urahnen, den Weltrettern ähnlich“ und daß „man Knaben und Jünglingen das Reifen zum Biedermanne als Bestrebungsziel hinstellt“. Dieser ist selbstverständlich nicht nur treudeutsch, verabscheut jede „Ausländerei“, er ist auch „unterthan“.

Spätere Beurteilungen von Heine und Engels zielen genau auf diesen Punkt. Heinrich Heine in seiner Schrift über „Die romantische Schule“ kennzeichnet ihn folgendermaßen: „Da sahen wir nun das idealische Hegeltum, das Herr Jahn ins System gebracht, es begann die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen jenen Kosmopolitismus, den unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.“ 1841 kritisiert Friedrich Engels in einem Text über Ernst Moritz Arndt die „Deutschtümelei“: „Die Deutschtümler wollten die Tatsachen des Befreiungskrieges ergänzen und das materiell unabhängig gewordene Deutschland auch von der geistigen Hegemonie des Fremden befreien. Aber eben darum war sie Negation, und das Positive, mit dem sie sich brüstete, lag in einer Unklarheit begraben, aus der es nie ganz erstand; was davon ans Tageslicht der Vernunft kam, war meist widersinnig genug. Ihre ganze Weltanschauung war philosophisch bodenlos, weil nach ihr die ganze Welt um der Deutschen willen geschaffen war und die Deutschen selbst die höchste Entwicklungsstufe längst gehabt hatten, [...] so wollte sie die Nation ins deutsche Mittelalter oder gar in die Reinheit des Urdeutschtums aus dem Teutoburger Wald zurückdrängen. Das Extrem dieser Richtung bildete Jahn [...]. Die großen ewigen Resultate der Revolution wurden als ,welscher Tand‘ oder gar ,welscher Lug und Trug‘ verabscheut; an die Verwandtschaft dieser ungeheuren Volkstat mit der Volkserhebung von 1813 dachte niemand.“

Es entbehrt nicht einer irgendwie unangenehmen Komik, wenn ein Schriftsteller wie E.T.A. Hoffmann, all seine Abneigung gegen Jahn unterdrückend und rein nach juristischen Kriterien argumentierend, gerade das Gefährliche an Jahn zum Beweis seiner Unschädlichkeit als Staatsfeind erklärt. Jahn ist im Sinne der Anklage nicht schuldig, und insofern fehlt es „...an dem Tatbestande irgendeines Vergehens, das weitere Untersuchung, viel weniger die Haft wider den Jahn rechtlich begründen sollte“. Tatsächlich wird das Urteil aber erst 1825 aufgehoben. Nach seiner Freilassung beschränkt man sein Aufenthaltsrecht und stellt ihn unter polizeiliche Aufsicht. Von da an lebt er, abgesehen von einer Unterbrechung, bis zu seinem Tode in Freyburg. Dort schreibt er Fortsetzungen seiner „Runenblätter“, seines „Volkstums“ und „Denknisse eines Deutschen, oder Fahrten des Alten im Bart“. Er hat Muße, ist beliebt, bekommt verschiedene Zuwendungen, hat Einkünfte aus seinen Büchern. 1842 bringt ihn die Wiedereinführung des Turnens durch königlichen Erlaß zurück in die Öffentlichkeit. 1848, als Siebzigjähriger, wird er, zur Krönung seines Lebens, als Abgeordneter ins Parlament der Frankfurter Paulskirche gewählt. Er ist jedoch der neuen Zeit nicht gewachsen, ergreift selten das Wort, und wenn, dann um die Erblichkeit des deutschen Kaisertums mit preußischer Spitze zu befürworten. Durch sein Auftreten in Frankfurt, wo er sich folgerichtig wie die konservativsten Abgeordneten äußert, verliert er einen großen Teil seiner Popularität (sogar bei den Turnern) und kehrt als mißverstandener und gebrochener Mann nach Freyburg zurück; wo er 1852 stirbt und mit allen Ehren begraben wird.

Freyburg, das Winzerstädtchen an der Unstrut, könnte so romantisch aussehen wie im Prospekt beschrieben, wäre da nicht ein ununterbrochener Strom von Autos und Lastwagen, der sich durch die schmale Hauptstraße wälzt. Hier steht seit 1856 die berühmte Rotkäppchen-Sektkellerei. Nach der Wende vom Untergang bedroht, weil die frisch Gewendeten alle DDR-Konsumartikel mieden, brachte ihr wenige Jahre später die DDR-Nostalgie achtzigprozentige Umsatzsteigerungen, was sich wiederum als Vermehrung des Weinbaus und der Arbeitsplätze niederschlägt. Hoch über der Stadt liegt die Neuenburg und ein weithin sichtbarer, „Dicker Wilhelm“ genannter Turm. Im 12. Jahrhundert entstand hier die „Eneit“, der erste deutsche Versroman. Von der Burg aus hat man einen weiten Blick über Unstruttal und Weinberge. Die „Jahn- und Weinstadt“ macht daraus, was sie kann, mit altdeutschen Weinstuben, Winzerfesten, Fettbemmen und Weinköniginnen. Ein überzeugter Antialkoholiker wie Jahn paßt eigentlich nicht zu diesem Ort.

In einer Gasse, in der an den kleinen Häuschen alte Weinranken voller Trauben emporwachsen, treffe ich auf zwei alte Männer und frage sie nach Jahn:

A: Ja, der ist von hier, drüben am Berg hat er gewohnt, wo das Museum drin ist, in dem Haus.

B: Nur gelebt hat er hier, gebürtig war er von woanders. Gestorben und beerdigt ist er auch hier. Das Grab ist oben, neben seinem Haus gleich.

A: Wissen Sie, der war doch verbannt worden aus Berlin, nur deshalb war er hier.

B: Hatte wohl irgendwelche revolutionären Sachen gemacht, war feindlich gegen den König eingestellt und kam hinter Gitter.

A: Jedenfalls hat er hier an die zwanzig Jahre gelebt. Seine Frau war ja fünfundzwanzig Jahre jünger..., ja... gestorben ist er dann an Lungenentzündung, und nur, weil er ein Kind gerettet hatte aus dem Wasser!

B: Mit vierundsiebzig, das müssen Sie mal bedenken!

A: Und nach seinem Tod war das hier ein richtiggehender Wallfahrtsort, da wurde damals die Jahn-Turnhalle gebaut und die Gedenkhalle, und Jahr um Jahr kamen dann die Turner nach Freyburg zum Turnfest, gewissermaßen um Jahn zu ehren. Das geht bis heute...

B: Und auch früher, zu DDR- Zeiten, hatten wir immer das Jahn- Gedächtnis-Turnen hier, jedes Jahr. Jetzt, vor 14 Tagen, hat es gerade wieder stattgefunden.

A: Das ist an sich so eine Art volkstümliches Turnen, in dem Sinn, daß da eben auch die ganzen alten Turner kommen, aus allen Turnvereinen, auch aus den ganz kleinen.

B: Die ganzen Freizeitturner eben.

A: Aber auch Profis, die machen auch mit!

B: Aber die machen dann meistens so die Schauprogramme, das Spitzenturnen...

A: Und die Alten, die nicht mehr so aktiv sind, nicht mehr so können, die machen dann auch irgendwas.

B: Machen ihre Turnübungen in aller Ruhe. Draußen im Stadion findet das statt, unter freiem Himmel. Diesmal waren's wohl 500 bis 600 Besucher, die da waren.

A: Früher waren das natürlich viel mehr, Besucher und Turner, wir haben Zimmer vermietet, und da kam immer eine alte Dame, die war 82 Jahre alt...

B: Die kommt doch jetzt noch, oder?

A: Ja, diesmal war sie auch wieder da, und die turnt noch immer mit, solche gibt es einige. Sie war in ihrer Jugend begeisterte Turnerin und ist bis heute gesund und beweglich geblieben. Die braucht keinen Stock!

B: (Streicht sich über seinen Bierbauch)

A: Dir würde etwas Bewegung auch nicht schaden!

B: Du, ich hab mich genug bewegt in meinem Leben! Ich war Bergmann – Kupferschiefer, so viele Kniebeugen, wie ich gemacht hab' bei der Arbeit...

A: Da, am Arm ist er tätowiert, zeig's der Dame mal... na, komm!

B: (Entblößt den Arm) Das ist das Bergbausymbol, ganz harmlos, eine Jugendsünde.

A: So hat jeder seine Jugendsünden, der eine turnt, der andere hält die Knochen hin.

Das Jahn-Museum ist ein schlichtes verputztes Steinhaus, am Schloßberg liegend. Nach fünf Jahren Deutscher Einheit steht die letzte Wohn- und Ruhestätte dieses eifrigen Vorkämpfers für nationale Einheit merkwürdig bruchbudenhaft da. Eine junge unerfahrene ABM-Kraft hütet das Museum. Im Erdgeschoß werden in Vitrinen und an den Wänden Bücher, Bilder und Dokumente Jahns und einiger seiner Zeitgenossen präsentiert. Etwas krampfhaft wirkt die Bemühung, ihn als Mann des Fortschritts darzustellen, durch viele Verweise auf Fortschrittlichere. Sein Kampfgeist gegen die französische Fremdherrschaft wird gerühmt, Napoleon als „Wegbereiter der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung“ gekennzeichnet, gegen die, so legt der Kontext unausgesprochen nahe, Jahn im Grunde von Beginn an gekämpft habe. Und ebenso wird nahegelegt, daß die Aufstände gegen die feudal-absolutistische Herrschaft entscheidend von Jahn mit angeregt worden seien. Zum liebevoll gestalteten Thema gibt es viele Dokumente und handkolorierte Originaldrucke im blauen Passepartout. Zu sehen sind auch sein „Ger“, diverse Kleidungsstücke und ein Turngerät, sein sogenanntes Pferd, ein mit Leder bespannter tierförmiger Torso, der noch viel mehr, als es beim modernisierten Gerät der Fall ist, an ein wirkliches Pferd erinnert und daran, daß diese Art des Turnens eigentlich bis heute auf dem militärisch-technischen Stand der Kavallerie und Landwehr von 1813 geblieben ist. Ausgestellt sind auch schöne Originalstiche und ein Ölbild, das die Mutter Jahns zeigt. Zwar, so klärt ein ausliegender Jahn-Report auf, habe man die Ausstellung schon von einigen Überlagerungen „durch Informationen marxistischer Geschichtsbetrachtung“ gesäubert und anscheinend mit Exponaten ergänzt, die wiederum in der DDR nicht willkommen waren, dennoch dünstet neben der neuen Westverklärung des Jahn- Bildes die alte Ostverklärung unvermindert durchs Museum. Jahn, hineingewebt als roter Faden ins Geschichtsbild, wird zum Freiheitshelden geschönt. Von 1848, über das Turnfest 1863 in Leipzig, die roten Arbeiterturnvereine der Weimarer Republik (von den Nazis wurde er nur mißbraucht), bis hin zu sozialistischer Körperkultur und Spartakiade in der DDR zieht sich sein segensreicher Einfluß. Es gibt kaum kritische Stimmen (so wie auch in der neueren Literatur zu Jahn), das Engels-Zitat aber konnte nicht unterschlagen werden. Und so steht im wiedervereinigten und weiterhin fort- und umzugestaltenden Jahn-Museum ein Satz zu lesen, der klingt, als sei es seine Aufgabe, beiden Seiten gerecht zu werden: „Wir ehren in ihm den Begründer des vaterländischen Turnens und den Initiator der fortschrittlichen bürgerlichen Turnbewegung!“

Im Gästebuch schrieb ein Teilnehmer der Gedenkwettkämpfe: „Das Seitpferd war recht schwer zu beturnen“, und Sigrid Burchard, geborene Quekl, vermerkte am 26.6. 1994, sie sei „Jahns Ur-Ur- Ur-Enkelin. Im Jahn-Haus zuletzt gewesen vor Kriegsende, zusammen mit meinem Vater Hildebrand Quekl.“ Gästebücher aus der Zeit der DDR oder gar der Zeit „vor Kriegsende“ kann uns die ABM-Kraft nicht zeigen, sie weiß nicht, wo sie sich befinden. Sie entschuldigt sich auch für ihre mangelhaften Kenntnisse in allen Museumsangelegenheiten und erklärt: „Meine Vorgängerin, die das hier bestimmt so an die fünfundzwanzig Jahre gemacht hat, die kennt sich aus mit allem. Aber leider, sie ist nicht mehr zu sprechen. Man kann das ja verstehen, so wie die Frau nach der Wende behandelt wurde, man hat sie hier richtiggehend rausgeekelt. Ich habe damals den Brief gelesen, den man ihr schrieb. Sie war nicht mal in der Partei! Trotzdem wurde einfach behauptet, daß sie nicht in der Lage sei, die Ausstellung auf die neuen Erfordernisse einzurichten. Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen, versuchen Sie es doch mal bei ihr selbst, sie wohnt gleich ein Stück oberhalb von uns, sie können einfach durchs Gartentor gehen. Aber ich sag's Ihnen gleich, wahrscheinlich wird sie nichts sagen.“

An der beschriebenen Gartenpforte fegt ein bärtiger älterer Mann in blauer Montur Laub. Er blickt kaum auf und grüßt brummend zurück, als ich an ihm vorbeigehe, er ist aber nicht, wie vermutet, ein Gärtner, sondern, wie ich später erfahren werde, der Gatte. Zum Haus muß man durch einen steilen, zum Garten umgestalteten ehemaligen Weinberg hinaufsteigen. Nach dem Klingeln erscheint eine zarte, kleine Frau und reagiert auf mein Anliegen etwas erschrocken: „Na, da will ich eigentlich gar nicht mehr drüber reden“, sagt sie zögernd und ergreift dann doch die Gelegenheit: „Es war so, man hat mich, damals nach der Wende, systematisch rausgedrängt. Ich bin am Ende freiwillig gegangen. Mein Mann war ja oben Verwalter auf der Neuenburg, dem hat man gekündigt und zuvor eine schmutzige Kampagne gegen ihn entfesselt – eigentlich gegen uns beide – wir hätten hier unser Haus mit unrechtmäßig erworbenem Material ausgebaut, unterschlagenem Material aus der Burg, mein Mann hätte oben alles verwahrlosen lassen, Werte zerstört..., was glauben Sie, was das zu DDR-Zeiten bedeutet hat, so einen vollkommen ruinösen Turm wie den Dicken Wilhelm zu restaurieren, ohne Dachpappe, ohne Mörtel, ohne alles? Er hat sich auf der Neuenburg wirklich aufgeopfert, ohne Dank! Die die Sache dann übernahmen, mit festem Arbeitsvertrag selbstverständlich, waren alles Leute vom Neuen Forum, genauso wie der Bürgermeister – und dieser Bürgermeister war früher ein besonders eifriger Junger Pionier, der jede Auszeichnung dankbar entgegengenommen hat. Davon wollte er nach der Wende dann nichts mehr wissen. Das ist ja allgemein verbreitet. Aber eines verstehe ich nicht, weshalb man da unten alles so verkommen läßt, ohne jede Umsicht. Beispielsweise morgens machen sie das Fenster auf, hinten, und vorn hört man sie stundenlang lachen. Das ist parterre, jeder noch so ungelenkige Dieb kann da einsteigen und meinetwegen das Ölgemälde der Mutter rauben oder auch die ganzen Originale, die Erstausgaben der Bücher... Bis die vorn was merken und reagieren, ist der längst über alle Berge. Wir hatten damals das Museum so geführt, daß auf gute Klimatisierung und Sicherheit zugleich geachtet wurde. Und auch sonst waren wir mit Materialien und Wissen wesentlich besser ausgestattet. Aber das zählt heute nicht mehr. Nach der Wende haben wir, weil angeblich Beschwerden kamen oder auch etwas beschränkte Besucher geklagt haben, ein paar Sachen entfernt, zum Beispiel von Marx, und danach hat man ja noch einige Änderungen vorgenommen – aber die kleine Kritik von Engels, die ist doch noch da, oder? Na, das erleichtert mich richtiggehend! Gut, man kann sagen, man macht eine Neukonzeption, das ist denkbar. Damit die dann aber auch besser, genauer und verständlicher wird, müßte man sich schon anstrengen. Ob das gelingt, daran wage ich zu zweifeln. Denn ich finde, die Ausstellung ist gut, so wie sie ist, sie zeigt eben auch das Widersprüchliche an der Person Jahn ein wenig, und vor allem eben seine bewunderungswürdigen Leistungen. Ich sehe die nicht nur im vaterländischen Turnen! Na ja, ich bin überall raus, bin auch nicht mehr in der Jahn-Gesellschaft. Wissen Sie, das ist bitter, wenn man so Tag für Tag auf zwanzig Jahre seines Leben hinunterblickt, in diesem Zustand des dauernden Unfriedens. Dabei, was könnte man alles machen! Statt unentwegt umzugestalten, könnte man erweitern, in den oberen Räumen ist alles frei und viel Platz, sogar im Kellergewölbe könnte man Wechselausstellungen zeigen. Es ist schade, wirklich schade. Sie stecken das Geld lieber in den Straßenbau und in die Brücke, damit noch größere und schwerere Lastwagen passieren können. Sie träumen von Infrastruktur und Massentourismus, aber diese Leute haben keine Ahnung davon, wie man mit einer solchen Sehenswürdigkeit umgeht. Es gibt weder Geld für eine Stelle im Museum noch gar für irgendeinen Katalog oder Prospekt. Der Förderverein, zur Traditionspflege und Erhaltung der Jahn-Gedenkstätten, nennt er sich, glaube ich, versucht wohl auch Spenden und Fördermittel aufzutreiben, aber wie die Dinge sich im einzelnen verhalten, weiß ich nicht, und ich muß mir ja nun wirklich keinen Kopf machen, nach allem, was geschehen ist. Jedenfalls lasse ich mich von meiner lebenslangen Jahn-Begeisterung nicht abbringen, nicht durch noch so große Kränkungen und üble Nachreden!“

Abb. aus: „Handbüchlein für Erwachsene“ von Ernst Eiselen