■ Türkei: Der Unternehmerverband Tüsiad fordert eine radikale Demokratisierung des politischen Systems
: „Ankara sollte Karl Marx studieren“

taz: Der Unternehmerverband Tüsiad hat kürzlich ein Memorandum zur Demokratisierung der türkischen Gesellschaft vorgelegt. Linke und die Gewerkschaften klatschen Beifall. Steht in der Türkei die Welt auf dem Kopf?

Ishak Alaton: Die Regierenden begreifen nicht, welche Trends in der türkischen Gesellschaft derzeit vorherrschen. Das Resultat ist ein gefährlicher Konflikt zwischen ihnen und einem großen Teil der Öffentlichkeit.

Hat diese Polarisierung begonnen, als der Islamist Necmettin Erbakan Ministerpräsident wurde?

Nein. Der Kurs begann mit dem Tod Özals. Seitdem verschlechterte sich die Situation rapide.

Wir haben das Problem, daß die herrschende politische Elite glaubt, undemokratisch agieren zu können, weil der legale Rahmen der Verfassung ihnen das Recht dazu gibt. Die Menschen in der Türkei sind davon überzeugt, daß die Regierenden ihre Machtposition ausnutzten, um illegalen Handel aller Art, inklusive Drogenschmuggel, zu betreiben. Die Trennung zwischen den politischen Eliten und der Bevölkerung wird zunehmend offenkundiger und führt zu einer gefährlichen, explosiven Situation.

In Ihrem Memorandum wird die Abschaffung des Nationalen Sicherheitsrats gefordert. Dagegen erscheint in der westlichen Rezeption das Militär häufig als Garant des säkularen Regimes in der Türkei, das den Islamisten Einhalt gebietet.

Wenn wir Teil der demokratischen Welt sein wollen, müssen wir auch die Regeln der Demokratie akzeptieren. Dies schließt die Abhängigkeit der Armee von der Regierung, die ein gewählter Körper ist, mit ein. Obwohl wir die Forderung nach Abschaffung des Nationalen Sicherheitsrats aufgestellt haben, sehen wir, daß es augenblicklich nicht die rechte Zeit ist, um das durchzusetzen. Wir plädieren für einen weichen Übergang im Laufe der nächsten Jahre.

Sie sagen, die Geschäftswelt befindet sich in einem Konflikt mit der politischen Klasse, weil diese unfähig zur Demokratisierung der türkischen Gesellschaft ist. Spüren Sie die wirtschaftlichen Folgen der politischen Krise?

Ohne Zweifel. Wir haben keine Planungssicherheit mehr. Jederzeit können unerwartete Dinge eintreten. Dies hindert uns an Neuinvestitionen. Die türkische Geschäftswelt hat nun verstanden, daß sie nur überleben kann, wenn sie den Demokratisierungsprozeß mitgestaltet.

Finden Sie Dialogpartner in Ankara?

Es wurde uns mitgeteilt, daß uns das alles nichts anginge, wir sollten uns um unseren eigenen Kram kümmern und Geld verdienen. Wir lehnen diese Kritik ab und lassen nicht von dem Druck auf Ankara ab.

Sie fordern politische Liberalisierung und wollen Folterer mit schweren Strafen bestrafen. Kritiker sagen, daß sei linksradikal.

Diejenigen, die Tüsiad kritisieren, sollten ruhig ein bißchen Marx lesen. Marx hat geschrieben, daß in allen Gesellschaften das Banner der Freiheit von der Bourgeoisie getragen wird. Menschen, die beginnen reich zu werden, fordern Menschenrechte und Meinungsfreiheit ein. Die türkische Bourgeoisie, repräsentiert in Tüsiad, tut nun genau dies. Wir können nicht mehr mit einer Verfassung leben, die von einem Militärregime geschrieben wurde.

Welche Reaktionen auf den Tüsiad-Bericht gab es noch?

Viele teilen unsere Forderung nach Demokratisierung und einer neuen Verfassung. Selbst hochrangige Militärs sehen heute, daß sich alles verschlechtern wird, wenn nicht schnell etwas passiert.

Aber eine Veränderung muß doch von der Bevölkerung und den politischen Parteien, nicht vom Militär kommen.

Ein Militärpusch wird nicht stattfinden. Der Wandel wird durch den Druck der regierungsunabhängigen Organisationen (NGOs) und der Bevölkerung kommen. Und Tüsiad wird unter den NGOs sein.

Interessant, daß Sie die NGOs erwähnen, aber nicht die Parteien. Gibt es Probleme mit den Parlamentsparteien?

Natürlich. Das Parteiensystem ist unzeitgemäß und völlig ineffizient. Die Bürger sind weiter als die anachronistischen Parteien, die der Entwicklung hinterherhinken. Der Grund für diese Ungleichzeitigkeit: Die Parlamentsabgeordneten sind in ihren Meinungsäußerungen unfrei, weil sie von den Parteiführern und nicht von den Bürgern gewählt werden. Auf diese Weise werden sie zu Werkzeugen eines undemokratischen Systems. Wir fordern die Abgeordneten auf, sich der Rolle der Jasager ihrer Parteiführer zu verweigern.

Vielleicht ist die radikale Alternative nicht die Demokratisierung, sondern der politische Islam?

Ich glaube nicht, daß der politische Islam zur vorherrschenden Ideologie wird. Die Türkei wird das nicht akzeptieren, nicht weil das Militär dies nicht zulassen wird, sondern weil die Menschen es nicht wollen. Rund 80 Prozent der Bevölkerung sind gegen eine Herrschaft des politischen Islam.

Ich hoffe auf eine Bewegung innerhalb des Parlaments. Unter normalen Bedingungen haben wir in allen Ländern eine Reihe verschiedener Parteien im Parlament. Auch in der Türkei scheint es ein Spektrum von rechts nach links zu geben. Aber wenn wir die Parteienpolitik analysieren, stellen wir fest, daß kaum Unterschiede bestehen. Die Opposition will die Regierungsparteien aus der Macht nur deshalb entfernen, um deren Plätze einzunehmen. Aber ich schätze, daß es mindestens 300 bis 400 Abgeordnete unter den 550 Abgeordneten quer durch alle Parteien gibt, denen der gefährliche Kurs bewußt ist. Statt der alten Parteifronten wird es hoffentlich bald eine neue Trennlinie geben zwischen den Konservativen, die den Status quo bewahren wollen und denjenigen, die nach Reformen suchen. Die Reformer werden siegen.

Die Türen der EU bleiben der Türkei verschlossen. Kürzlich haben die christdemokratischen Parteiführer in Brüssel festgehalten, daß die Türkei nicht zur europäischen Zivilisation gehöre. Wie wirkt sich das aus?

So etwas bringt Menschen in der Türkei zur Verzweiflung und stärkt die Ultranationalisten, die sagen: Laßt uns zu unseren Ursprüngen im Mittleren Osten zurückgehen. Die Ausgrenzung der Türkei ist auch deshalb ein gefährlicher Kurs für Europa, weil Europa so das türkische System dazu treibt, sich nach innen zu wenden und sich von der EU zu distanzieren. Es ist gefährlich, was die Christdemokraten betreiben. Interview: Ömer Erzeren