Kaut auf Gegenständen!

ABM als hohe Kunst, auch im Sinne Karl Valentins: Eine Ausstellung zum „Faktor Arbeit“ in der Berliner Neuen Gesellschaft für Bildende Künste  ■ Von Harry Nutt

„Solange der Arbeitslose in seinem ephemeren Zustand blieb, (...), war seine Teilhabe an der Gesellschaft und am Staat nicht in Zweifel.“ Er wurde, so Claus Koch (Merkur, 11/93) dank der Mechanismen des Sozialstaats als vorübergehende Schwächung aufgefaßt. Der Arbeitslose war letztlich ein Arbeitsbürger, der auf kurz oder lang wieder Beschäftigung finden würde. „Wer arbeiten will, findet auch welche“, lautete die apodiktische Gewißheit des Volksmundes, die immer ein bißchen nach Angst und Selbstbeschwörung klang.

Inzwischen muß der Arbeitslose als neue Zivilisationsgestalt angesehen werden. Sein Zustand ist von Dauer, und es kann jeden treffen, den Manager genauso wie den Bauarbeiter. Die Zivilisation der Arbeitslosigkeit, darauf hat Claus Koch nachdrücklich hingewiesen, hält freilich weiter am hehren Ideal der Beruflichkeit fest. Daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, ist das eine, daß sie des alten Begriffs der Arbeitslosigkeit um so dringender bedarf, das andere. Nur so läßt sich die Fiktion der Selbstverantwortung aufrechterhalten. Der Arbeitslose hat sich dem Realitätszwang gegenüber unflexibel erwiesen. Ihm wieder auf die Sprünge zu helfen, dafür gibt es die Programme des zweiten Arbeitsmarkts, ABM und Umschulungen aller Art.

Die Ausstellung „Faktor Arbeit“ der NGBK hat sich auf schwieriges Terrain begeben. Das meiste, so scheint, ist zu Arbeit und Arbeitslosigkeit bereits gesagt. Aber gerade deswegen vielleicht noch nicht gezeigt. Gerald Adam Hahns Fotoporträts von Obdachlosen gleichen Skulpturen. Durch Witterung, Hautkrankheit und Alkohol deformierte Gesichter blicken einen an.

Die ungeahnte Würde der „Überflüssigen“

Das eine oder andere hat man auf der Straße schon einmal gesehen. Die Annahme der flüchtigen Bekanntschaft wird durch distanzloses Zurückblicken der Porträtierten jedoch verunsichert. Wo weder Scheu noch Ekel den Blick abwenden lassen, erhalten die Gesichter eine ungeahnte Würde. Die Demut der „Überflüssigen“ erblickt den Voyeurismus des Betrachters. Auf der anderen Wandseite des Raums die andere Seite der Gesellschaft. Porträts von der Funktionselite, Birgit Breuel, Günter Rexrodt, dessen Satz, es sei in Deutschland immer noch zu schwer, Menschen zu entlassen, mit den kryptischen Lebensläufen der Obdachlosen kontrastiert wird: „Horst Tachele, 33 Jahre, Maler, arbeitslos, seit 1 Jahr obdachlos, 1993.“

Es ist dem völlig unprätentiösen Zugriff der Ausstellungsmacher zu verdanken, daß ein soziales Thema nicht zu Sozialkitsch verkunstet wird. Das mag sehr viel damit zu tun haben, daß die meisten Teilnehmer der Sammelausstellung durchaus ihre Erfahrungen mit der Mittellosigkeit haben. Torsten Haake Brandts angenagten Alltagsgegenstände mit dem Titel „Faule Säcke! Nutzt Eure Freizeit! Kaut auf Gegenständen!“ eröffnen darüber hinaus einen Blick auf die regressive Dimension des ABM- Prinzips.

Ausgangspunkt der Ausstellung war eine „Integrationsmaßnahme für Langzeitarbeitslose“ des brandenburgischen Arbeitsamts in Pritzwalk, das Peter Funken, Mitinitiator von „Faktor Arbeit“, mit anderen Dozenten leitete. Künstler beim Arbeitseinsatz auf dem Lande bedeuten für die Verwaltungsbürokratie natürlich ein erhöhtes Risiko. Die Sache paßte schließlich nicht so recht auf die Ermittlungsbögen. Wegen anarchischer Kursdurchführung wurde Funken und seinen Kollegen im Winter 1996 vom Arbeitsamt gekündigt. Der in der Ausstellung gezeigte Dokumentarfilm (von Dorothee Wenner, Helmut Höge und Peter Funken) zeigt gewissermaßen die Fortsetzung des abgebrochenen Projekts mit anderen Mitteln.

„Kunst ist schön“, hat einmal Karl Valentin gesagt, „macht aber viel Arbeit.“ So war es letztlich überfällig, daß Künstler sich ein Bild von der Arbeitslosigkeit machen. Ganz im valentinschen Sinne muß man Haake Brandts „Kugelschreiberzeichnungen und Arbeitsplatz“ sehen.

Hundert Zeichnungen gegen Arbeitslosigkeit

Hunderte von bemalten Blättern sind an die Wand gepinnt, ein nicht zu Ende gemaltes Blatt liegt noch auf dem Tisch. Kein Akteur nirgends. Mag sein, daß für diese Tätigkeit gerade mangelnder Bedarf festgestellt worden ist. Vielleicht ist der Künstler aber auch auf dem Arbeitsamt, dem man von der Gestaltung seiner tristen Flure mit einem solchen Werk eher abraten muß. Die Zivilisation der Arbeitslosigkeit ist auf derlei Irritationen vermutlich nicht eingestellt.

„Faktor Arbeit“, bis 1. 6., NGBK, Berlin, Oranienstraße 25

An einem Runden Tisch finden verschiedene Veranstaltungen zum Thema statt (Gipsdreieck, Berlin-Mitte: 5. 5., um 16 Uhr: „Wieviel Arbeitslosigkeit verträgt das Land?“; NGBK: 12. 5., um 16 Uhr: „Und plötzlich bist du arbeitslos“; 20.5., um 19.30 Uhr: „Wem gehört die Stadtmitte“ und 26.5., um 19.30 Uhr „Schöne Aussichten? Die Zukunft der Arbeit, die Arbeit der Zukunft“