Nichtserben ist der Eintritt untersagt

Zweieinhalb Monate führte der Dokumentarfilmer Mladen Vuksanović ein Tagebuch über den grausigen Alltag in Karadžić' Hochburg Pale. Er berichtet über die Morde an muslimischen Nachbarn, über Angst und leisen Widerstand  ■ Von Heiko Hänsel

Wer dieses Tagebuch aus Pale liest, denkt an die Tagebücher von Victor Klemperer aus der Zeit von 1933 bis 1945. Genau wie er damals berichtet Mladen Vuksanović Tag für Tag unter der Bedrohung des eigenen Lebens von Diffamierung, chauvinistischer Propaganda, amtlicher Ausgrenzung, nationalistischem Terror und Deportation. Nur geschieht es nicht in Dresden, sondern in Pale/Bosnien im April 1992, und die Spirale der Gewalt dreht sich nicht in Jahren, sondern innerhalb dreier Monate.

Vuksanović (geb. 1942 in Pale) war vor dem Krieg einer der wichtigsten Dokumentarfilmer von TV Sarajevo und hatte Filme über die Verfolgung der Albaner im Kosovo und den Krieg in Slowenien und Kroatien gedreht. Dennoch hatte er es nicht für möglich gehalten, daß der Krieg auch in sein kleines Pale in den Bergen über Sarajevo kommen würde, das sich die Schlächter um Radovan Karadžić zum Hauptquartier erkoren hatten. Das Unfaßbare geschieht. Von Pale aus wird Sarajevo bombardiert. Es ist Krieg an einem Ort, wo die Menschen in netten Einfamilienhäusern lebten, im Garten saßen und die Kinder abends zum Rockkonzert in die Großstadt fuhren. Hier werden die Befehle für den Völkermord erteilt, der Terror organisiert.

Eintrag vom 30. Juni: „Izo, der Barbier aus der Carsija, wurde verhaftet. Am nächsten Tag teilte man der Familie mit, er habe sich aufgehängt. Als sie ihn für die Beerdigung vorbereiteten, entdeckten sie an seinem Körper mehrere schwere Verletzungen. Es war zu Tode geprügelt worden. Am Begräbnis nahm aus Angst fast niemand teil.“ Als Augenzeuge dokumentiert Vuksanović, wie die Muslime in Pale von ihren ehemaligen Nachbarn und Freunden als Türken diffamiert, zu Untermenschen erklärt werden und sich nicht mehr aus ihren Häusern wagen. Sie werden aus den Ämtern und Betrieben entlassen, ihre Telefone abgeschaltet, ihre Pensionen nicht mehr ausgezahlt, und es taucht das erste Schild auf: Zutritt für Nichtserben verboten. Schließlich müssen die Muslime ihre Häuser und sämtliche Habe verlassen. Sie werden in Busse verladen und deportiert. Ja, das sind die Attribute des Faschismus. Es ist der serbische Faschismus des Jahres 1992. Der alte Kinosaal, in dem Vuksanović seine ersten Filme sah, verwandeln die Tschetniks in einen Folterkeller. Dort werden oppositionelle Serben mit Handschellen an Heizkörper gebunden und so lange geprügelt, bis sie um Aufnahme in die serbische Armee bitten. Dort folterten sie auch den Barbier Izo zu Tode. Was immer man über die Alltäglichkeit auf der Seite der Republika Srpska gewußt haben mag, Vuksanović gibt ihrem terroristischen Antlitz Gestalt.

„Es ist Nacht. Ich sitze vor dem Haus und beobachte die verdunkelten Häuser, in denen Menschen leben oder sterben. Sie sehen aus wie Grabsteine aus einer schrecklichen Zeit. Hier in Pale ist die Nacht am schwersten, als versammelte sich das ganze tägliche Grauen, um mit seiner Wucht dem Menschen zu sagen, er sei ein Niemand, vielleicht ein Schemen, das voller Angst auf das Morgengrauen wartet“, schreibt Vuksanović am 9. Mai, am Tag des Sieges über den Faschismus. Er ist voller Verzweiflung über so viele verratene Freundschaften, so viele verratene Erinnerungen.

Vuksanović' Vater ist montenegrinischer Herkunft, sein Glauben serbisch-orthodox, seine Mutter Kroatin und römisch-katholisch. Als Ausdruck seines Widerstandes besucht er ihre getrennten Gräber auf dem orthodoxen und dem katholischen Friedhof. Er selbst könne sich, wie er schreibt, niemals national spezifizieren. Er sei kein nationaler, sondern ein professioneller Journalist, so seine Schutzformel. Seine serbischen Volksgenossen erklären Vuksanović zum Serben und verstehen nicht, wieso er nicht für das neue Serbische Fernsehzentrum arbeiten will, daß doch die „Wahrheit über die Serben“ verbreitet. Sehr bald weiß er, daß er auf den „Listen für die Liquidierung unehrenhafter Serben“ verzeichnet ist. Er ist als Muslimfreund bekannt, die ersten Hausdruchsuchungen beginnen. Am 13. Juli kann er nach 110 Tagen die Hölle verlassen, mit einer Bescheinigung einer serbischen Hilfsorganisation. Er flieht mit seiner Frau nach Rijeka/Kroatien. Im Gepäck das Tagebuch, das bei Entdeckung seinen Tod bedeuten würde. Heute lebt er auf der kroatischen Insel Cres, als Hausmeister und Kindererzieher, ohne Aussicht, seinen Beruf wieder ausüben zu können.

Tag für Tag hat Vuksanović über seine persönliche Drangsal, das Leid der Opfer und die Entmenschlichung der serbischen Täter Zeugnis abgelegt. Sein Buch ist bedeutend, auch weil es jenes andere Serbien zeigt, das widerstand. Joschka Fischer hat diese besondere Bedeutung in einem sensiblen Vorwort hervorgehoben. Da ist die serbische Nachbarin, die hilft, wo sie kann, und die serbischen Männer, die sich verstecken oder ins Ausland fliehen, um der Zwangsmobilisierung zu entgehen. Und natürlich der Autor selbst, der sich weigert, vom Menschen zum Serben zu werden.

Das 20. Jahrhundert wurde in Sarajevo zu Grabe getragen. Dieser Satz ist eine gängige Figur im Denken vieler Intellektueller aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ihm wohnt ein bedrohlicher Pessimismus inne. Er besagt, daß im neuen, dem 21. Jahrhundert der Genozid und das Völkerschlachten nicht der Vergangenheit angehören, sondern als Instrumentarien des menschlichen Verhaltenskatalogs adaptiert worden sind. Diese existenzielle Not, das Nicht-mehr-atmen-Können im Angesicht des Unsagbaren, klingt auch aus den Sätzen Mladen Vuksanović'. Das Grauen wiederholt sich. Davon zeugt das Tagebuch aus Pale.

Mladen Vuksanović: „Pale – Im Herzen der Finsternis. Tagebuch 5.4.–15.7.1992“. Mit einem Vorwort von Joschka Fischer. Aus dem Serbokroatischen von Detlef L. Olof, Folio Verlag, Wien/ Bozen 1997, 152 Seiten, 36 DM