Glauben, der nicht im Buche steht

30.000 Aleviten leben in Hamburg – ohne Koran, Moschee und Kopftuch  ■ Von Volker Stahl

Sie trinken Alkohol, essen Schweinefleisch, meiden die Moschee, die Frauen gehen unverschleiert auf die Straße – und sie sind Moslems. Die türkischen Aleviten gehören zu einer Minderheit im Islam. In Hamburg leben knapp 30.000 alevitische Gläubige, wie die Familie Kayaturan in Veddel.

Auf dem Wohnzimmertisch der Kayaturans liegt die türkische Tageszeitung „Hürriyet“. Die Parole „Die Türkei den Türken“steht neben dem Logo der Zeitung – in kleinen Lettern, aber unübersehbar. „Über diesen Nationalismus ärgere ich mich jeden Tag, wir lesen die Zeitung aber trotzdem“, sagt Familienvater Ahmet Kayaturan (49). Er schätzt die Bandbreite der Meinungen, die in der Publikation zu Wort kommt. „Wir reden in der Familie und unter Freunden über alles, nicht nur über alevitische Belange.“

Eine weltoffene, republikanische und tolerante Haltung ist unter Aleviten verbreitet. Das brachte die religiöse Minderheit in der Türkei immer wieder in Schwierigkeiten. Die Aleviten sind Schiiten und im Gegensatz zu ihren iranischen Glaubensbrüdern weltlich orientiert. Sie befürworten eine Trennung von Religion und Staat. Bis vor 20 Jahren konnten sie sich in ihrer Heimat deshalb meist nicht als Aleviten zu erkennen geben.

Ahmet Kayaturan lebt seit 1973 in der Bundesrepublik, seit 1974 in Hamburg. Er arbeitet als Fahrer in der Norddeutschen Affinerie. Seine Frau Gülüzar folgte ihm 1977 mit den Kindern Hacer, Hüseyin und Bülent. „Bis vor zehn Jahren hatten wir den Plan, in die Türkei zurückzukehren“, erzählt Kayaturan. „Wie es jetzt aussieht, werden wir wohl hier bleiben. Es gefällt uns gut in Deutschland und wir haben uns hier Rentenansprüche erworben.“

In der Bundesrepublik leben und arbeiten mehr als eine halbe Million Aleviten, die meisten stammen wie Familie Kayaturan aus dem östlichen Anatolien. Die Anwerbung von Arbeitskräften durch die Bunderegierung und die Diskriminierung in der Türkei waren die Hauptgründe für die Einwanderung. Die Diskriminierung erstickt oft alle Gedanken an eine Rückkehr im Keim. Auch Bülent (21) kann sich nicht vorstellen, in der Türkei zu studieren. „Ich hab' vor kurzem die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. In fünf Wochen werde ich wohl den Paß bekommen.“Wie es dann weitergeht? „Dann mache ich erst mal Zivildienst, Waffen sind nicht meine Sache.“

Aber auch hierzulande ist das Leben eines jungen Aleviten nicht immer einfach: „In der Fastenzeit bin ich an einer Moschee vorbeigekommen und wurde wegen meiner langen Haare von fundamentalistischen Jugendlichen angefeindet“, berichtet Bülent. Aber nur eine Minderheit sei so gesonnen. Viele Aleviten fühlen sich nicht als Moslems, sondern betrachten ihre Religion als eigenständig. „Bei uns sind die Frauen gleichberechtigt. Wir beten nicht ständig und gehen nicht in die Moschee. Außerdem dauert unser Fasten statt 30 nur 12 Tage“, erläutert Ahmet Kayaturan. Auch den Koran findet man bei der Familie nicht. Der Glauben wird nach alevitischer Tradition mündlich überliefert. Vermittler der Weisheiten sind die „Asik“genannten Dichter und Sänger.

In Hamburg gibt es zwei kulturell-religiöse Alewiten-Vereinigungen. Der Anatolisch-Alevitische Kulturbund (Haak Bir) und das Alevitische Kulturzentrum haben rund 500 Mitglieder. Höhepunkte sind die „Cem“-Gottesdienste dreimal im Jahr. Dort werden Verse rezitiert, religiöse Lieder gesungen, gesegnetes Essen gereicht, und Mädchen und Jungen tanzen zusammen. In der Türkei gibt's damit Probleme, in Deutschland nicht.