Verzweifeltes Warten im Sand der Wüste

Die UN haben mit James Baker einen neuen Vermittler für die festgefahrene Situation in der Westsahara benannt. Die Kämpfer der Unabhängigkeitsbewegung Polisario und ihre Familien harren in Camps in Algerien aus  ■ Aus Tindouf Reiner Wandler

Eine Windhose treibt am Ende der langen Zeltreihen mit Staub und Papierfetzen ihren Schabernack. Ein Schar von Kindern stöbert laut grölend durch die sandigen Gassen zwischen den Zelten. Über den weißen Kuppeln des Gemeindezentrums flimmert die Luft. Die Wachhäuschen an der Einfahrt zum einzigen großen gemauerten Gebäudekomplex liegen verlassen da. Nur wenn der Rote Halbmond die internationalen Lebensmittelhilfen ausgibt, kommt Leben ins Lager. Dann stehen Scharen von verschleierten Frauen geduldig an. Sobald die weißen LKWs entladen sind, fällt wieder alles zurück in die aufgezwungene Untätigkeit. Tote Zeit, die im schattigen Innern der Zelte überbrückt wird.

Besucher sind dabei eine willkommene Abwechslung. Dann wird Tee aufgetischt. „Immer drei. Der erste so bitter wie das Leben, der zweite so süß wie die Liebe, der dritte so sanft wie der Tod“, erklärt Bachir Daf Sidi Salek die stundenlange, jahrhundertealte Zeremonie. Dabei spielt der grauhaarige Greis mit seinem schweren Ring am Zeigefinger, einziges Symbol, das auf seinen sozialen Stand hinweist. Der mit einem schlichten blauen Umhang – der Darraa – bekleidete Bärtige ist Scheich, Fürst des Wüstenstammes Sidi Abdala Musset. Zwei große verschrammte Blechkisten für den Hausrat und der Fetzen aus schwarzer Kamelwolle, der die Wasserfässer vor der Sonne schützt, ein Stück des traditionellen Jaima, in dem die Familie wohnte, bevor sie in die Flüchtlingscamps mit ihren Kunststoffzelten kam – das ist alles, was noch an früher erinnert.

Von vergangenen Zeiten, als Bachir Daf mit den Seinigen auf der Suche nach immer neuen Weideplätzen für die Kamelherde durch die Wüste zog, erzählt er nicht gerne. „Was nützt es, von dem zu reden, was war, von dem, was wir hatten? Ich weiß nur eines: Die Marokkaner haben mir alles genommen“, antwortet er statt dessen und fischt mürrisch einen vergilbten Zettel aus einer kleinen rechteckigen Blechdose, in der er seine Lesebrille aufbewahrt. In deutlicher arabischer Handschrift stehen da drei Namen vermerkt, Mahmut, Mohamedu und Mulay, hinter jedem eine Jahreszahl 1976, 1980, 1990. „Meine Söhne – alle im Kampf gegen Marokko, für die Unabhängigkeit unseres Landes gefallen“, sagt Bachir Daf mit resignierter Stimme. Die Mittagshitze kriecht langsam zu den Zeltöffnungen herein. Das Wellblechdach der aus Lehmziegeln erbauten Küche nebenan gibt unter der Hitze Geräusche von sich, als würde ein Regenschauer auf ihm niedergehen – eine akustische Fata Morgana.

„Als ein paar wenige junge Sahraouis anfingen, vom bewaffneten Befreiungskampf zu reden, wollte ich davon zuerst nichts wissen“, erinnert sich Bachir Daf. Es waren die frühen siebziger Jahre. Begeistert vom algerischen Sieg über Frankreich und den Kämpfen in Lateinamerika, gründeten vor allem Studenten die Frente popular para la liberación de Saguia el Hamra y Rio de Oro (Polisario). Saguia el Hamra und Rio de Oro nannten die Spanier die beiden Provinzen, in die sie ihre Kolonie in Nordafrika aufgeteilt hatten.

Wie die anderen meist konservativen Stammesfürsten setzte auch Bachir Daf auf Gespräche zwischen dem Kolonialparlament Yema, dem sie angehörten, und der Regierung in Madrid. Eine tragische Fehlentscheidung, wie sich schnell herausstellen sollte. Zwar zogen die Kolonialherren Anfang 1976 ab, die Unabhängigkeit der Westsahara jedoch blieb aus. Am selben Tag, als der letzte spanische Legionär die Wüste Richtung Kanarische Inseln verließ, besetzten mauretanische und marokkanische Truppen das Land.

„Ich floh mit meiner gesamten Sippe nach Tifariti, nahe der mauretanisch-algerischen Grenze“, erzählt Bachir Daf. Der kleine Handelsfleck bot den Sahraouis nur kurze Zeit Schutz. Nur einen Monat nach Kriegsbeginn, im März 1976, bombardierte die marokkanische Luftwaffe das gesamte Gebiet mit Napalm. Wie viele in jener Nacht ihr Leben ließen, weiß keiner so genau. „Zehn Mitglieder meiner Familie fielen in die Hände der Marokkaner. Bis heute habe ich keine Nachricht von ihnen.“ Bachir Daf schlürft nachdenklich am Tee. Er floh zusammen mit fast 200.000 Sahraouis in die Camps, die die Frente Polisario in aller Eile auf der anderen Seite der algerischen Grenze errichtet hatte. Unter ihrem Einfluß brachen dort neue Zeiten an. Die Macht der Scheichs wich der des Parlaments und der Exilregierung, der am Tag des Kriegsbeginns ausgerufenen Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS). Bachir Daf ist seither „ein ganz normaler Bürger“.

Erst vor fünf Jahren, als Marokko und die Polisario einen Waffenstillstand unterzeichneten, erinnerten sich die Sahraouis plötzlich wieder ihrer alten Fürsten. Der damalige UN-Generalsekretär Butros Butros Ghali hatte auf seinen zwei Besuchen in den Flüchtlingslagern ein Referendum über die Unabhängigkeit versprochen. Wer war geeigneter, um die Listen der Wahlberechtigten zu erstellen, als die alten Scheichs? „Ich hatte plötzlich wieder die Hoffnung auf eine friedliche Lösung“, erinnert sich Bachir Daf, der sich sofort bei der „Mission der Vereinten Nationen für ein Referendum in der Westsahara“ (Minurso) meldete. Die Sahraouis in den Camps tanzten die ganze Nacht auf den Straßen, ihre Landsleute in den besetzten Gebieten gaben hinter vorgehaltener Hand die neuesten Nachrichten weiter, die sie heimlich Nacht für Nacht aus dem Radiosender der Polisario erfuhren. „Doch die Erfassung der Wahlberechtigten stellte sich schnell als Farce heraus, Hassan II. versuchte, uns Unmengen umgesiedelte Marokkaner unterzuschieben“, beschuldigt Bachir Daf die Gegenseite. Und die UNO verschob das Referendum immer wieder, um die Vorbereitungen im Mai letzten Jahres ganz einzustellen.

So ist das Land zwischen der Ebene des Saguia el Hamra im Norden und dem Kap Blanc im Süden noch immer von den Truppen Hassan II. besetzt. 2.500 Kilometer Mauer aus Sand und Felsbrocken durchziehen die unwirkliche Landschaft. Sensoren und Radar melden den 200.000 marokkanischen Soldaten jede verdächtige Bewegung. Eine Million Dollar kostet König Hassan II. jeden Tag die Verteidigung seiner Kriegsbeute – 80 Prozent der Westsahara, ein Gebiet halb so groß wie das einstige Mutterland Spanien.

Die Plünderung der wichtigsten Reichtümer der Westsahara, der Phosphatabbau in Bou Craa, im Norden des Landes, und der Fischbänke am Atlantik, sollen dies wieder wettmachen. Das Landesinnere, ein langgezogener Streifen entlang der Grenze zu Algerien und Mauretanien, hält weiterhin die Polisario mit ihrem 30.000 Mann starken Guerilla-Heer.

„Wir sind immer drei Monate an der Front und dann 25 Tage zu Hause in den Flüchtlingslagern“, beschreibt einer von ihnen, Mohamed Morach, das Soldatenleben, während er den Tee immer wieder von einem Glas ins nächste gießt, bis sich Schaum bildet. Dann kippt er ihn zurück in die kleine Blechkanne, versetzt ihn mit einem Glas voller Zucker und schenkt ihn wieder aus. Ein Kofferradio untermalt die Szene mit Nachrichten von Radio Freies Sahara auf Hassani, dem eigenwilligen Dialekt der Wüstenbewohner, mit mehr als einem Viertel nichtarabischer Wörter. Mohameds Frau Fatimah stellt Datteln und ein Erfrischungsgetränk auf den ganz mit selbstgewobenen Grasmatten und Teppichen ausgelegten Zeltboden. „Leider nur deutscher Sirup aus den Hilfsgütern, mit Wasser versetzt“, entschuldigt sie sich, bevor sie sich neben ihrem Mann niederläßt.

„In den besetzten Gebieten herrscht zwar mehr Wohlstand, aber nicht die gleiche Freiheit wie hier“, und das sei das einzige, was im Leben zähle, setzt Fatimah erneut an. Wie viele sahraouische Frauen ihrer Generation hat Fatimah einen Beruf erlernt, etwas, was bis heute in Marokko undenkbar ist. Nach acht Jahren Hochschulstudium in Kuba unterrichtet sie Spanisch im lagereigenen Internat, in dem die Kinder die Mittelstufe durchlaufen, bevor sie selbst in Algerien, Syrien, Libyen oder Kuba Abitur und ein Hochschulstudium absolvieren werden.

An ihre Heimatstadt El Aaiun erinnert sich Fatimah kaum noch zurück. Als die Marokkaner 1976 die ehemalige Hauptstadt der spanischen Kolonie unweit der Atlantikküste besetzten, war sie gerade mal sechs Jahre alt. Sie floh mit einem Onkel auf die Kanarischen Inseln und von dort in die Camps. Ihr Vater blieb bei der schwerkranken Großmutter zurück. Erst der UN- Friedensplan machte ein überraschendes Wiedersehen möglich. Mit den Minurso- Truppen kam der Vater, auch er ein alter Stammesfürst, in die Camps. „Wir hätten uns gar nicht wiedererkannt, wenn uns nicht eine alte Nachbarin, die uns beide noch von vor dem Krieg kannte, vorgestellt hätte“, erzählt Fatimah sichtlich gerührt. „Das war drei Monate bevor die UNO die Volkszählung aussetzte“, sagt Fatimah und schaut betreten zu Boden. Seither beschleicht sie wieder dieses nur allzu vertraute ungute Gefühl, wenn ihr Mann Mohamed nach dem viel zu kurzen Heimaturlaub an die Front zurückkehrt. Dann beginnen wieder die langen Tage und Nächte des bangen Wartens. Schon in einer Woche ist es wieder soweit. Mohamed wird einmal mehr die Darraa gegen seine olivgrüne Uniform eintauschen.

„Noch ist es ruhig an der Front“, sagt Ahmed Fal, Kommandant der zweiten von sieben Militärregionen der sahraouischen Verteidigungslinien. Kein Abzeichen auf der Schulter, kein Orden auf der Brust verrät seinen Rang. Der 40jährige Mann, der jede Antwort nachdenklich abwägt, gehört zur Gründergeneration der Polisario. 1975 brach er wie so viele sein Studium ab und verschrieb sich der Sache der nationalen Befreiung. Von einer kleinen Backsteinfestung auf einem Hügel über den Ruinen von Tifariti – zerstört in jener Nacht, als das Napalm die Luft zum Brennen brachte – befehligt er zwei Panzer-, ein Infanterie- und ein Artilleriebataillon.

Ahmed Fals Abschnitt ist für beide Seiten von großer Bedeutung. Hier schützen gleich zwei Mauerringe das marokkanisch besetzte Territorium. „Dahinter liegen die Phosphatminen von Bou Craa“, erklärt Kommandant Ahmed Fal und zeigt Richtung Westen. Dort, unweit der feindlichen Stellungen, haben sich seine Krieger die steinige Landschaft zunutze gemacht. Unter jedem Fels kann sich ein Unterstand befinden, ein Panzer im Versteck auf den Einsatzbefehl warten.

„Die Minurso hat bereits 30 Prozent ihrer Blauhelme abgezogen und einen von sechs Stützpunkten ganz geschlossen“, beschreibt Ahmed Fal die Lage. Die Marokkaner, sagt er, nützen den Rückgang der Kontrollfahrten aus, um ständig ihre Stellungen an der Mauer auszubauen. „Ein klarer Verstoß gegen den Waffenstillstand“, beschwert sich der sahraouische Kommandant. Was geschieht, wenn die UNO tatsächlich, wie sie immer wieder androht, bis auf ein kleines Beobachterbüro alle Kräfte abziehen sollte, darüber möchte Ahmed Fal lieber keine Spekulationen anstellen. Doch an einem läßt er keinen Zweifel aufkommen: „Meine Männer wollen endlich Taten sehen, sie sind die Hinhaltetaktik Marokkos leid.“

Auch in den Flüchtlingslagern macht sich Ungeduld breit. „Zwanzig Jahre unter diesen Bedingungen sind verdammt lang“, gibt der alte Bachir Daf Sidi Salek zu bedenken. Plötzlich dringt ein erster zaghafter kühler Windhauch ins Zelt. Die Sonne eilt dem Horizont entgegen. „Ich würde auf meine alten Tage noch einmal gerne mit meiner Familie durch die Wüste bis an den Atlantik reisen.“ Die Augen von Bachir Daf Sidi Salek glänzen beim Gedanken an das Meer, an dessen Ufern, in El Aaiun, der Nomade früher so oft Tauschgeschäfte abwickelte. Plötzlich trinkt der alte Scheich seinen Tee aus, steht wortlos auf und geht vor das Zelt. Er kniet sich langsam in den immer noch heißen Wüstensand. Sein sehniger Körper hebt sich gegen den vom zarten Hellrot in tiefes Dunkelblau übergehenden Himmel ab. Die Hände vor der Brust verschränkt, den Blick gegen Mekka gerichtet. Es ist die Stunde des Abendgebets.