Öffentliches Rühren im Kaffeesatz

Die Enquetekommission des Bundestages versuchte, den Alltag in der DDR zu analysieren. Es blieb bei Anekdoten und einem verklärten, nostalgischen Erzählabend  ■ Aus Eisenhüttenstadt Jens Rübsam

In der Expertenrunde erzählte man sich den: „Zwei Steppkes rufen über die Mauer: Ätsch, wir haben Bananen, ihr nicht! Dafür haben wir Sozialismus und ihr nicht! Darauf die Westjungs: Können wir auch haben, wenn wir wollen. Sagen die Kids hinter der Mauer: Kann sein, dann habt ihr keine Bananen mehr.“ Schallendes Gelächter in der Expertenrunde namens Enquetekommission zur „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“. Und Rainer Eppelmann, einst DDR-Abrüstungsminister und jetzt Kommissionsvorsitzender, frotzelte: „Wenn man das hört, könnte man denken, die DDR sei ein Kabarettstaat gewesen.“

Experten waren am Montag ins Eisenhüttenstädter Rathaus geladen, um über den „Alltag in der DDR zwischen Selbstbehauptung und Anpassung“ Auskunft zu geben. Wissenschaftler vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung und vom Dresdner Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung waren gekommen. Es hieß, ein ernstes Thema zu bereden: Erfahrungen und Bewältigungsstrategien in der Mangelgesellschaft. Es gehe darum, sagte Eppelmann, daß das Leben in der DDR wiedererkennbar werde.

Darauf noch ein Versorgungswitz aus DDR-Zeiten: „Einer zieht einen Sarg auf einem Handwagen hinter sich her. Fragt der eine mit beileidsgesenkter Stimme: Ein Trauerfall? Sagt der andere: Nein, nein, Särge gab's gerade.“ Noch ein paar Anekdoten: Von Ananasbüchsen beispielsweise, die im Westen eine und im Delikat-Laden 12,50 Mark gekostet haben; von bläulich gepunkteter Sessel-Polsterwatte, mit der der chirurgische Chefarzt des Weidenplan-Krankenhauses in Halle eine Bauchhöhle ausstopfen mußte, weil medizinische Watte im ersten Arbeiter- und Bauernstaat nicht zu haben war; von einem Beschluß des Politbüros aus dem Jahre 1977, der besagte, anstatt Kaffee dürfe in Gaststätten der Preisstufe II und III nur noch Kaffee-Ersatz (51 Prozent Röstkaffee, 5 Prozent Zichorie, 5 Prozent getrocknete Zuckerrübenschnitzel, 5 Prozent Spelzenanteile und 34 Prozent Roggen- Gersten-Gemisch) ausgeschenkt werden. Eppelmann mühte sich um Ernsthaftigkeit und fügte an: „Das war die Wirklichkeit der Politik der Partei der Arbeiterklasse.“ Kommissionsmitglied Hermann Weber sinnierte: „Vielleicht kann ja doch erst die kommende Generation, die genügend Abstand und Distanz zur DDR hat, an die Aufarbeitung der Geschichte rangehen.“ Die Hüttenstädter aber vermuteten, als Versager von der Enquetekommission amtlich vorgeführt zu werden.

Dabei sei nicht er es, der versagt hat, sagte Herr P., seinen Namen will er nicht in der Zeitung sehen, der Staat von heute habe versagt. Man müsse sich nur mal in Hüttenstadt umschauen. Das HO- Magnet-Kaufhaus, einst erste Einkaufsadresse am Platz, sei zu einem Humana-Secondhandshop verkommen. Das Hotel Lunik nenne sich jetzt vornehm City- Hotel, eine Familienfeier sei dort nicht mehr zu bezahlen. Im EKO- Werk würden noch 2.000 Leute arbeiten, früher waren es 12.000, die ganze Stadt habe von dem Stahlwerk gelebt. Zu DDR-Zeiten hätte es all das nicht gegeben, sagte Herr P. Zuviel Demokratie sei eben nicht gut.

6.041 Arbeitslose sind im März in Eisenhüttenstadt gemeldet, darunter 593 Jugendliche.

An der holzvertäfelten Wand im Rathaussaal deutet noch heute ein runder Schatten auf vergangene Zeiten. Wo einst das Hammer-Sicher-Ährenkranz-Emblem prangerte, hängt ein klobiges Stadtsymbol – mit EKO in Umrissen drauf und mit Friedenstaube.

Wo sonst die Stadtverordneten (17 SPDler, 11 PDSler, 6 CDUler, 3 Bürgervereinigte, ein „Republikaner“) versuchen, die heutigen Probleme der DDR-Musterstadt in den Griff zu bekommen, lud die Enquetekommission nach der Expertenanhörung erstmals zu einem offenen Erzählabend die Bevölkerung ein. Lebensgeschichten sollten erzählt werden. Ganz persönliche Lebensgeschichten aus Stalinstadt.

Etwa die von Harry Julisch, Jahrgang 1928: „Jeder hatte Arbeit. Jeder hatte eine bezahlbare Wohnung. Jeder hatte ein klein wenig Wohlstand. Die meisten hatten einen Trabant.“ Harry Julisch hat seit 1956 im EKO gearbeitet, zuerst am Hochofen, dann in der Investdirektion des Werkes. Er war in der Partei, seit 1948, „mit gutem Gewissen“, er war gegen Krieg und für Frieden und für Aufbau, und er hat sich immer „gutgefühlt hier“. Seine Identität lasse er sich nicht nehmen, „nicht von Ihnen“, der Enquetekommission, und auch nicht von irgendwelchen West-Professoren, die als Sachverständige über DDR-Vergangenheit philosophieren. Identität, das war das Stichwort für Wolfgang Herzberg, den Arbeiterliteraturschriftsteller aus Ost-Berlin. Die Enquetekommission zeichne sich durch verachtende Eindimensionalität aus. Es sei ein Skandal und eine Zumutung, wie hier mit der Vergangenheit umgegangen werde. Zwischenruf von Kommissionsmitglied Hartmut Koschyk: „Der Mann braucht einen Psychiater.“

Eine andere Lebensgeschichte. Doktor Manfred Garlipp, Jahrgang 1938, seit 1981 Chef der Chirurgischen Abteilung am Krankenhaus Eisenhüttenstadt. „Wenn wir ehrlich sind, müssen wir doch zugeben, daß wir Weltmeister im Improvisieren waren.“ Mangel an Röntgenfilmen, personelle Besetzungskonflikte, keine Fachliteratur, keine Genehmigung, an Fachtagungen im Ausland teilzunehmen. Nicht zuletzt persönliche Nachteile für ihn, der in keiner Partei war, weil er Christ ist. „Als sich mein ältester Sohn entschieden hatte, Bausoldat zu werden, bekamen meine beiden jüngeren den Staat zu spüren.“ Einem sei das Abitur verwehrt worden, dem anderen das Studium. „War das die gelobte Kindererziehung in der DDR?“, fragte Manfred Garlipp.

„Die DDR war am Ende. Moralisch. Ökonomisch. Juristisch. Ökologisch.“ Die DDR sei pleite gewesen, machte Rainer Eppelmann dem Erzählabend ein Ende.