Warten auf die "Hasenjagd"

■ Bis nachmittag war es in Kreuzberg und Prenzlauer Berg friedlich wie seit Jahren nicht - dafür sorgte die unübersehbare Polizeipräsenz. 5.000 Gewerkschafter am Roten Rathaus

Kreuzberg, ehemals SO 36, am zehnten Jahrestag des „revolutionären 1. Mai“. Polizei-Grün dominiert über Revolutions-Rot. „Einen schönen guten Tag“, wünscht kurz vor Demobeginn ein ausgesucht freundlicher Beamter in der Oranienstraße, „hier finden Vorkontrollen zur 1.-Mai-Demo statt.“ Wer hätte das gedacht.

Business as usual gleich hinter der Kontrolle im Straßencafé Alibi. Ein junger Mann mit blauer Brille „will bloß mal gucken – ist ja alles ganz ruhig hier“. Eine Kreuzbergerin mittleren Alters in Strickleggins und Trainingsjacke wartet bei einem Täßchen Kaffee auf die alljährliche „Hasenjagd“. „Mitmachen würde ich nicht, aber aus der Distanz schau' ich mir die Demo gerne an. Jetzt gehe ich erst mal schwimmen, und dann werde ich ein bißchen mitradeln.“ Spricht's und winkt einen Polizisten herbei, um sich über die Demo-Route zu informieren.

Eher kleckerweise treffen die DemonstrantInnen auf dem Oranienplatz ein. Von roten Fahnen blickt in mehrfacher Ausfertigung Mao auf das Treiben herab, und die Revolutionären Kommunisten (BRD) prophezeien, der „BRD- Imperialismus“ werde brennen. Aus einem Lautsprecherwagen plärren fröhliche Revolutionsschlager: „Und die Bullen müssen schießen, denn zum Schießen sind sie da ...“.

Drei Ecken weiter am Mariannenplatz wird derweil in aller Ruhe das Straßenfest vorbereitet. Die fünf anwesenden „Bullen“ denken offenbar nicht an Straßenkampf, sondern plaudern und lachen in der Sonne, die sich noch nicht endgültig entschieden hat, ob sie bleiben oder gehen will. „Noch bin ich ziemlich beschwingt“, erklärt einer der Polizisten, „warum auch nicht – ist doch Feiertag.

Der Kinderbauernhof betreibt den schwunghaften Handel mit Kaffee und Streuselkuchen; auch revolutionäre T-Shirts („Aldi ist die Kiez-Küche des Wirtschaftsfaschismus“) sind zu haben. Die PDS nutzt die traditionellen Wurfgeschosse als Flugblattbeschwerer. China-Pfannen brutzeln. Am Stand der Freundschaftsbrigade Berlin-Kuba ist sich der rauschebärtige Kuba-Freund hinterm Tresen ganz sicher: „Das wird das friedlichste Fest, das Kreuzberg je gesehen hat.“

Dafür hatte die Polizei schon in der Walpurgisnacht am Kollwitzplatz gesorgt. „Veranstaltungen zur Walpurgisnacht finden nicht statt, gehen Sie bitte weiter.“ Die Ansagen durch die Polizeilautsprecher in der Nacht zum 1. Mai rund um den Kollwitzplatz waren eindeutig. Noch eindeutiger war die unübersehbare Polizeipräsenz. Die Viertel rund um den Kollwitz- und Helmholtzplatz waren bereits seit dem Nachmittag komplett abgeriegelt worden.

Unzählige Einsatzfahrzeuge kurvten durch die Straßen. Auf der Danziger Straße parkten demonstrativ Wasserwerfer und Räumpanzer. Vor zwei Jahren war die Walpurgisnacht in einer stundenlangen Straßenschlacht geendet, nachdem die Polizei ohne Vorankündigung den Kollwitzplatz mit Tränengas eingenebelt hatte.

Im letzten Jahr hatten Kiezinitiativen daraufhin eine Sicherheitspartnerschaft mit der Polizei für das Fest organisiert, daß jedoch erneut in gewalttätigen Auseinandersetzungen endete. Dieses Jahr hatte die Polizei schon im Vorfeld umfangreiche Maßnahmen angekündigt. Mit Flugblättern wurden die Anwohner aufgefordert, ihren Personalausweis mitzuführen. Für alle anderen Besucher hieß es draußen bleiben. Und wer zu lange oder in Gruppen mit mehr als zwei Personen an einem Ort weilte, mußte mit dem Zugriff der Ordnungshüter rechnen. 59 Personen wurden vorübergehend festgenommen.

Der Kollwitzplatz selbst war hermetisch durch einen Bauzaun abgeriegelt. Wo in den vergangenen Jahren Tausende um die Feuer getanzt hatten, kamen diesmal auf einen Passanten zehn Polizisten. Die meisten Gaststätten hatten dennoch geöffnet und waren überraschend gut besucht. „Endlich lernt man mal seine Nachbarn kennen“, witzelten die Anwohner über das ungewohnte Gefühl, ohne die sonst üblichen Massen der „Zugereisten“ ihr Bier trinken zu können.

Gegen halb drei Uhr morgens brannte doch noch ein Feuer. Weitab von den Polizeisperren, auf einem der wenigen unbewachten Plätze, machten es sich rund 20 Menschen um ein paar lodernde Holzscheite gemütlich. Die Polizei fährt einmal um den Platz und zieht dann wieder ab.

Mit bloßem Hingucken beläßt es die Polizei dagegen am 1. Mai in Kreuzberg nicht. Nur 800 DemonstrantInnen finden sich zu der von maoistischen und meist türkischen ML-Gruppen organisierten 1.-Mai-Demo auf dem weiträumig abgesperrten Oranienplatz ein. Auch den Zug selbst begleitete ein massives Polizeiaufgebot und sorgt dafür, daß es friedlich bleibt.

Dafür sorgten die Veranstalter am Prenzlauer Berg selber. Bereits zum dritten Mal feierten linke Gruppierungen gestern ihr Straßenfest auf dem Humannplatz. Neben lauten Konzerten und den üblichen kulinarischen Köstlichkeiten servierte die PDS den mehreren hundert BesucherInnen ihre Mieterzeitung, der Kiezladen Dunckerstraße rief zum Widerstand gegen die Umstrukturierungen des Bezirkes auf, und Antifa- Gruppen wiesen auf die Benachteiligungen von Asylbewerbern in der BVG hin.

Bei Bier, Bratwürsten und Blasmusik versammelten sich am Alexanderplatz nach Polizeiangaben rund 5.000 DGB-Gewerkschafter zur 1.-Mai-Kundgebung. Der Sternmarsch zum Roten Rathaus stand unter dem Motto „Es geht ums Ganze – Sozialstaat sichern“. Hatte sich der Unmut der Gewerkschafter im vorigen Jahr noch gegen die eigene Führung gerichtet – DGB-Chef Schulte war bei seiner 1.-Mai-Rede ausgepfiffen worden – trifft er jetzt die Bundesregierung. „Kohl muß weg“, skandiert die Menge. Gereon Asmut/Christoph Villinger/Holger Wicht/Dorothee Winden