Willkommen im Club

■ Vorbemerkungen zum 34. Berliner Theatertreffen: Während aus einigen Theatern erstaunliche Wirklichkeit wächst, sind die Festivalrituale ungebrochen

„Theater ist immer live“, behauptete der Berliner Senat in einer großangelegten Werbekampagne Anfang 1970. Der Impuls, das Staatstheater gegenüber der grassierenden Performancekunst in Positur rücken zu wollen, war verständlich, die Hoffnung, das Publikum nach einem Gastspiel des Living Theaters wieder mit Klassikerrepetitionen zufriedenzustellen, sicher vergeblich. Denn wenn in weiter Ferne Darsteller Text absondern und eingeübte Gesten absondern – wer garantiert einem, daß das kein Hologramm ist?

In den folgenden Jahren ergriffen einige Theatermacher selbst die Initiative, wurden von Literaturvermittlern zu – Regietheater! – Kommentatoren, oder sie kultivierten – Bildertheater! – den optischen Spektakelwert. Eine Live- Garantie gab es zwar auch darauf nicht, aber inszenierungsweise wurde das Theater originär: man hatte nicht mehr irgendwo Goethes „Faust“ gesehen, sondern beispielsweise Claus Peymanns Stuttgarter Adaption von 1977.

In den 80ern verfeinerte sich alles, tauchte gründelnd in die Dichtung zurück und lotete Innerlichkeit aus. Bis plötzlich die Mauer fiel und die westlichen Theaterleute feststellten, daß sie „vollgefressen in ihren Institutionen sitzen“ (Peter Stein) und „mit dem Drama auf der Straße nicht konkurrieren“ konnten, wie es der amerikanische Theaterkritiker Jonathan Kalb ausdrückte.

Neu: Theater glauben an sich selbst

Korrekt gerechnet ist das nun sieben Jahre her, was ein Mückenschiß ist, auf die Sternzeit bezogen, und doch ist nicht zu leugnen, daß heute ein Gespräch über Christoph Schlingensiefs letzte Inszenierung an der Berliner Volksbühne mit einem Erfahrungsaustausch beginnt: Je nachdem, in welcher Vorstellung man war und wo man saß, hat man etwas anderes erlebt. Und Schlingensiefs Theater ist nur ein Beispiel dafür, daß das deutschsprachige Stadt- und Staatstheater durchaus Live-Qualität gewonnen hat. Ein erstaunlicher Zuwachs an Wirklichkeit ist stellenweise zu verzeichnen, der sich nur dadurch erklären läßt, daß sie anderswo abhanden kommt.

Tatsächlich wird dem öffentlichen Leben heutzutage mit Forschungsprojekten nachgespürt, die etwa „Theatralität als politische Diskursform in der Mediengesellschaft“ voraussetzen, und auch Theaterwissenschaftler erfinden sich als „Theateranthropologen“ neu, um die Welt als Bühne auszudeuten. Das „wahre“ Leben also wird als reproduziertes Standbein- Spielbein-Ritual faßbar, während das Theater einem zwanglosen Eigenleben frönt: Assoziationen bestimmen die Dramaturgie, Schauspieler verweigern ihre Rollen, und jenseits der Rampe wohnt nicht das Erhabene, sondern nur ein anderes Hier und Jetzt.

Vater dieser Bewegung ist fraglos Frank Castorf, die Heimatbasis wurde die Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz, und die besucht man nicht einfach, sondern man hat an ihr teil, was sich mit Streichholzschachteln und T-Shirts jederzeit beweisen läßt, willkommen im Club. Hier beherrschen die Schauspieler die Figuren, gerinnen Befindlichkeiten als Requisiten zum Spielmaterial, wird vorgeführt, was vom Tage übrigblieb, und das ist oft nicht viel, aber lustig. Ein volkstümlich spektakelhaftes Theater, impulsiv, geschichtsdistanziert, ideenzersetzend und nicht einmal sich selber treu. Denn es macht auch vor der eigenen Substanz nicht halt und hat bereits begonnen, seine konzeptionelle Entgleistheit zu demontieren und sich in Zynismus zu verflüchtigen.

Die freigewordene Energie konstruktiv zu nutzen, gelingt Jüngeren schon besser. Regisseure wie Leander Haußmann (Bochum), Andreas Kriegenburg (Hannover) oder Armin Petras (Nordhausen) müssen nicht mehr beweisen, daß die Ideologien am Ende sind und auch sonst nichts mehr funktioniert, um eine Art von Authentizität zu demonstrieren. Sie setzen das vielmehr voraus und versuchen, aus den gegebenen Umständen eine Erzählform zu gewinnen.

Mit jeweils anderen Einflüssen, anderen Schwerpunkten und einem anderen Rhythmus entwickeln sie Castorfs Ästhetik weiter, lösen die Aggressivität in Musikalität auf und fokussieren in den Resten des Gesellschaftstableaus den einzelnen. Ob einer bei Haußmann mehrfach auftritt und wieder von der Bühne geht, weil er sich nicht entscheiden kann, Kriegenburgs Figuren in einsamer Glücksuche auf den Kulissen herumklettern oder Petras eine Hofgesellschaft zu Easy-Listening-Sounds rhythmische Gymnastik treiben läßt – auf das Lebensgefühl kommt es an und darauf, wie der einzelne im Alltag funktioniert.

Auch hier ist ein Mehrwert an Wirklichkeitserfahrung garantiert, weil dieses Theater nichts reproduziert, sondern selbst das Ereignis ist, auf das es verweist. Es zeigt ein Leben, das dein eigenes sein könnte oder nicht und macht dich ab und zu ein bißchen glücklich.

Alt: Seine Funktionäre glauben an das Ganze

Kein schöneres Theater also in dieser Zeit? Man darf nicht vergessen, daß das deutschsprachige Theatersubventionswesen, einzig in seiner Art, täglich auch einen furchterregenden Output graumausigen, zeitklauerischen Mittelmaßes hat. Aber das Genannte zeigt immerhin, was mitunter zu gewinnen ist.

Gestern nun hat das 34. Berliner Theatertreffen begonnen, und es hat den Anspruch, zehn der „bemerkenswertesten“ Arbeiten des letzten Jahres gebündelt vorzuzeigen. Fünf von der Berliner Festspiele GmbH berufene Kritiker mittleren Alters (Gerhard Jörder, Renate Klett, Dieter Kranz, Sigrid Löffler und Michael Merschmeier) haben sich von den rund 2.000 Schauspielaufführungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz insgesamt 200 angesehen und zehn davon nominiert.

Vom Hamburger Schauspielhaus wurden Produktionen von Stefan Bachmann, Thirza Bruncken und Christoph Marthaler eingeladen (der auch mit einer Berlin/ Basler Koproduktion kommt), aus Stuttgart Inszenierungen von Christof Loy und Elmar Goerden; Frank Castorf ist mit einer Volksbühnen-Arbeit da, Andreas Kriegenburg mit einer aus München. Weiters, wie der Österreicher sagt, der heuer gar nicht dabei ist, sind Volker Hesse vom Züricher Neumarkt vor Ort und die freie Berliner Choreographin Sasha Waltz.

Alles hübsch verpackt, mit Lesungen neuer Stücke und einem Musikprogramm im traditionellen Spiegelzelt, und 3sat überträgt drei Inszenierungen live, vier andere zeitversetzt. Von so was träumt man anderswo, aber hierzulande setzt prompt die Standbein-Spielbein-Rhetorik ein. Weil kein Theater aus dem Osten dabei ist und überhaupt dreimal Hamburg und niemand mit Müllers „Germania 3“ und auch Peymann mit Handkes „Zurüstungen“ nicht und keine Alten wie Zadek oder Stein, ist das Geheule groß, und Merschmeier guckt neben August „Bühnenverein“ Everding aus einer 3sat-Leinwand ins „Kulturzeit“- Studio und muß die subjektive Auswahl als subjektiv verteidigen. Dabei haben nur fünf Kritiker einen Konsens gefunden, was soll's. Da eben haben wir doch wieder den vollen Wirklichkeitsverlust: daß gedacht wird, es gäbe „wahre“ Entscheidungen, und irgendwer könnte das „Ganze“ im Blick haben.

So gibt es zwar Hoffnung auf ein abschwellendes Reproduktionswesen innerhalb der Theater, ihre Funktionäre aber laufen noch immer auf dem Kothurn. Petra Kohse