Moralische Eitelkeit

Wer angesichts des täglichen Unglücks die Hände in Unschuld wäscht, tut es in einem seelischen Innenraum. Zur Beschaffenheit guter Absichten in Leserbrief und Leitartikel  ■ Von Michael Rutschky

Regelmäßig begegnet in der großen Medienerzählung, aber auch im Alltag ein Problem, das moralische Eitelkeit genannt zu werden verdient, eine narzißtische Spreizung und Selbstverliebtheit, die sich, statt auf Klamotten oder Oberarmmuskeln oder die blonde Haarmähne, auf die eigenen guten Absichten bezieht.

„Immer“, führt uns beispielsweise Thomas aus Hannover vor Augen, „findet zuerst die Ausgrenzung aufgrund ethnisch-moralisch irrelevanter Merkmale wie Geschlecht, Hautfarbe oder Anzahl der Beine beziehungsweise Art der Körperbehaarung statt, um anschließend die so ausgegrenzte Gruppe für die Ausbeutung oder gar Vernichtung gesellschaftlich akzeptiert freigeben zu können.“ Thomas aus Hannover ist Vegetarier und hat erkannt, wie die Versklavung dunkelhäutiger Menschen, der Handel mit Frauen als Prostituierten einen Zusammenhang bilden mit unserer Übung, das Fleisch von Tieren zu Ernährungszwecken wie auch dem des Genusses uns einzuverleiben.

„Die Einsicht in diesen Zusammenhang wird“, ist Thomas aus Hannover fortgefahren, „immer noch gern verweigert. Entsprechend sind die unvorstellbaren Grausamkeiten, die wir Tag für Tag Millionen sogenannter Nutztiere antun, möglich und in unserer Gesellschaft immer noch grundsätzlich konsensual. ,Artgerechte Haltung‘ und ,schonendes Schlachten‘ werden natürlich gefordert, aber der Schritt, auch Tieren das Recht auf Freiheit von Angst und Leiden und vor willkürlicher Tötung zuzusprechen, fällt doch noch ziemlich schwer. Tiere haben Rechte“, so schließt Thomas aus Hannover, „dies jedoch als gesellschaftlichen Konsens zu etablieren, ist ein Jahrhundert-, wenn nicht ein Jahrtausendprojekt. Wir Vegetarier arbeiten daran.“

Da darf man an Jesus Christus denken, dessen Projekt sich demnächst zum 2.000mal jährt, ein Projekt, das seine Verfechter stets als Humanisierung und moralische Verfeinerung der Barbaren propagiert haben, Barbaren, die sich beispielsweise daran ergötzten, wenn im Circus Maximus Löwen Menschen zerrissen.

Der Erfolg des Christentums, sagen seine Anhänger, zeigt sich daran, daß 2.000 Jahre später die Dortmunder Westfalenhalle oder das Münchner Olympiastadion für solche Schauspiele verschlossen bleiben; im Jahr 4000, sagt Thomas aus Hannover, wird Vergleichbares für Restaurants gelten, dank des Vegetariertums, das die Humanisierung auf die nächste Stufe getrieben und uns das Schwein oder das Rind als Bruder respektive Schwester anzuerkennen gelehrt hat (wie Jesus die Bruder- respektive Schwesternschaft aller Menschen). Im Jahr 4000 gibt's im Restaurant statt Steaks nur noch Grünkernbratlinge.

Soll schon die – freilich implizite – Identifikation mit Jesus als Zeugnis moralischer Eitelkeit gelten? Das wäre überstreng; obwohl der Gedanke, einzig dem Christentum verdankten wir die moralische Zivilisierung, Verdacht erregt. Auch fällt einem gleich die Barbarei ein, die das Rom des christlichen Mittelalters beherrschte.

Thomas' Eitelkeit ist zunächst einmal eine intellektuelle. Er hat einen Zusammenhang erkannt, welcher der Menschheit in ihrer gegenwärtigen moralischen Verfassung verschlossen ist (außer seinen vegetarischen Mitbrüdern und -schwestern). Wir schlachten und essen Vieh, weil es, anders als wir, vier Beine (statt zwei) und ein Fell aufweist (statt der menschlichen Nacktheit) – ebenso sondert die männlich dominierte Menschheit die Frauen aus (die andere als männliche Geschlechtsteile aufweisen), ebenso unterwirft die von den Weißhäutigen dominierte Menschheit die Brüder und Schwestern aller anderen Hautfarben.

Gegen Thomas' Aufstellung lassen sich vermutlich genauso viele, wenn nicht mehr Argumente ins Feld führen wie gegen die Christen, die meinen, einzig ihnen verdankten wir unsere moralische Verfassung (weshalb es mit Thomas' Stolz auf seine höhere Einsicht nicht so weit her ist). Die moralische Eitelkeit kommt an anderer Stelle ins Spiel: Indem Thomas kein Fleisch verzehrt und der Menschheit den Vegetarismus predigt, kann er sich nicht bloß in der guten Absicht sonnen, die Menschheit – wie Christus – auf die nächsthöhere Stufe ihrer Moralentwicklung zu heben; nicht nur wärmt ihn das Gefühl, endlich moralisch angemessen auf Massentierzucht und Massenschlachtung zu reagieren, an die ich als leidenschaftlicher Fleischfresser auch nur höchst ungern denke: Na also, sagen Thomas und seinesgleichen, anders als wir traust du dich bloß nicht, dein eigenes Unbehagen zu Ende zu denken – auf einen Schlag ist Thomas auch von jeder Absicht frei, Frauen und Schwarzafrikaner zu diskriminieren. Wer trotz Fell und Hufen im Rind das Mitgeschöpf anerkennt, wie sollte der der Absicht verdächtigt werden können, Frauen wegen andersförmiger Geschlechtsteile und Afrikaner wegen dunkler Haut zu verachten?

Allein wegen seiner allumfassenden guten Absicht erweist sich Thomas aus Hannover als wahrer Freund der Menschheit, einer Menschheit, die dank Tierfraß, Frauen- und Schwarzendiskriminierung dieser Freundschaft, genau besehen, noch gar nicht würdig ist...

Das Problem der moralischen Eitelkeit wird gewöhnlich unter der Überschrift „Gesinnungsethik“ verhandelt, der man die „Verantwortungsethik“ gegenüberstellt, um die sterile Aufgeregtheit der Gutmenschen zu tadeln, während praktisch folgenreiche politische Arbeit im geduldigen und kunstreichen Bohren dicker Bretter bestehe. Wenn man die Gesinnungsethik der Gutmenschen als moralische Eitelkeit betrachtet, rückt sie in das breite Spektrum der Befriedigungs-, fast möchte man sagen: der Konsummöglichkeiten ein, die der Narzißmus bietet.

Die guten Absichten bilden eine Art innerer Gnadensonne, die Schuldgefühl und Depression – die normalen Begleiter der fortgeschrittenen Zivilisation – verläßlich zu überstrahlen scheint. Nach dem Büroalltag, der schon genug Normalquälerei, aktive und passive, mit sich bringt, soll dich zum Abendessen dieser Rinderbraten mit Tomatensauce und Makkaroni trösten – aber die „Tagessschau“ umstellt dich mit Bildern und Nachrichten über BSE, welche organisierten Schrecken die köstliche Speise voraussetzt. Darauf folgen Bilder und Nachrichten, welcher unvorstellbare Hunger eben im tiefsten Afrika, im Kongo, einem seiner reichsten Länder, ausbricht. Weil das alles die Menschheit ist, die du auch bist, fällt ein tiefer Schatten auf den Rinderbraten, der doch eigentlich mit seinem Wohlgeschmack den tiefen Schatten vertreiben sollte, den der Arbeitsalltag auf dich geworfen hat. Adornos berühmte Formel vom Schuldzusammenhang alles Lebendigen ist alles andere als überlebt; sie ist inzwischen sehr viel mehr Kulturbürgern als zu Adornos Zeiten plausibel (denen der Name Adorno wenig sagt).

Da scheint die Kultivierung der guten Absichten dem depressiven Kulturbürger einen Ausweg zu bieten. Er für seine Person mißbilligt die industrielle Fleischerzeugung – wie überhaupt die schwarzen Nebenfolgen der industriellen Produktionsweise: Wenn es nach ihm ginge, hätten wir längst die ökologische Steuerreform. Wenn er seine höchstpersönlichen Absichten durchmustert, findet er auch keine, die auf den Atommülltransport nach Gorleben zielt – so fern liegt der ihm wie Tierversuche im Dienste der Kosmetikindustrie oder das Erschlagen von Robbenbabies. Seinen guten Absichten, unter deren Strahlen sich der Kulturbürger gern wie in ein Solarium legt, entsprechen natürlich auch die vielen Bettler und Obdachlosen auf unseren Straßen keineswegs; niemals hat der wohlmeinende Kulturbürger der Existenz von Junkies zugestimmt, die Handlungsweise von Rauschgiftproduzenten und -händlern findet jederzeit seine schärfste Mißbilligung. Ebenso die Massenarbeitslosigkeit: Er hat sie nicht gewollt.

In dieser Manier kann der Kulturbürger jedes Unglück, das mittels der großen Medienerzählung oder im Alltag zu ihm dringt, in einen narzißtischen Gewinn umarbeiten. Wenn es nach ihm ginge, fände in Algerien kein Bürgerkrieg statt; die Hutu-Tutsi-Massaker nannte er sofort entsetzlich, als die ersten Nachrichten kamen: Wie man so etwas tun könne, ist ihm für seine Person unverständlich. Ebenso – um endlich auf den Alltag zu kommen – wie Frau Handke von gegenüber ihren kleinen Sohn auslacht, wenn er schreiend vor Schmitts Pitbull davonrennt. Er würde nie ein Kind in Angst auslachen, mag sie auch imaginär sein. Und man liest doch regelmäßig das Schrecklichste über die Biester: Neulich versuchte ein Pitbull im Stadtwald eine Wildsau zu reißen...

Klar, wenn man moralische Eitelkeit derart durchbuchstabiert, springt ihre Absurdität ins Auge: Der moralische Geck parodiert mit seinen guten, ja besten Absichten, als wäre er Gott, vom Pitbull bis zum Atommüll für alles irdische Geschehen verantwortlich zu machen – nein, er war's nicht, das Gegenteil ist wahr.

Normalerweise begegnet man moralischer Eitelkeit nicht derart extensiv. Wer angesichts des täglichen Unglücks seine Hände ausgiebig in Unschuld wäscht, tut das meist insgeheim, in seinem Seeleninnenraum. So wie der in puncto Kleidung Eitle am liebsten allein vor dem Spiegel steht und sich selbst bewundert.

Doch findet der moralische Geck auch öffentliche Bühnen, seine guten Absichten auszustellen: die Leserbriefseite der Zeitung beispielsweise, wo Thomas aus Hannover uns darüber aufklären darf, daß Fleischverzehr dieselbe Struktur aufweist wie Antisemitismus – weshalb er als Vegetarier sich a priori von jeder Verantwortung für Auschwitz frei weiß. Zu den Bühnen, auf denen moralische Eitelkeit sich öffentlich ausgeben darf, zählt auch der Leitartikel: An demselben Tag, an dem Thomas aus Hannover mittels Leserbrief vor uns paradierte, zitierte in München ein Leitartikler, den wir Heribert nennen wollen, die Bibel. „Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute“, zitierte Lukas den Pharisäer – nach unserer Überlieferung Inbegriff moralischer Eitelkeit – Heribert hat mit dem Pharisäer die europäischen Parlamentarier vor Augen, die über Menschenrechtsverletzungen in Schwarzafrika die Hände ringen, während ihr jährlicher Bericht über Menschenrechtsverletzungen in der EU dieselbe fast makellos findet.

Demgegenüber möchte Heribert aus München uns wissen lassen, daß die Massenmorde in Ruanda ebensowenig seinen Absichten entsprechen wie die deutsche Massenarbeitslosigkeit, die auch eine Form von Menschenrechtsverletzung darstelle, an seinen guten Absichten gemessen.