■ 1. Mai oder die jährliche Misere ausbleibenden Publikums
: „Du mußt die Führung übernehmen“

In einem Kampflied früherer Zeiten hieß es: „Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger, alles zu werden, strömt zuhauf!“ Die Aufforderung richtete sich an die Arbeiterklasse. Es wäre abgedroschen, aus den Teilnehmerzahlen am diesjährigen 1. Mai auf die Selbsteinschätzung der in dem Lied Angesprochenen zu schließen. Seit den fünfziger Jahren, als das „goldene Zeitalter“ des Kapitalismus anbrach, reißt der Katzenjammer nicht ab, der die Gewerkschaftsaktivisten, die deutschen zumal, in jedem Jahr nach den Mai-Feiern befällt. Die Misere sinkenden Zulaufs ist längst ausgeleuchtet: Die Klasse schrumpft, das proletarische Milieu zerfällt, Individualisierungsprozesse greifen um sich. Die Ware Arbeitskraft sinkt seit den 70er Jahren im Kurs – weltweit und in Deutschland.

Und dennoch: angesichts der trostlosen Kolonnen, die, von Schalmeienkapellen angeführt, dieses Jahr dem Berliner Roten Rathaus zustrebten, kroch kalte Depression selbst den unentwegten Marschierern den Rücken hinauf. Wann, wenn nicht jetzt, wäre es an der Zeit gewesen, Präsenz zu zeigen? Dafür hätten nicht nur verletzte Gefühle angesichts des tagtäglichen Herumtrampelns auf dem Sozialstaat gesprochen, sondern jede Menge Vernunftgründe, einschließlich eines simplen Zahlenkalküls: freundlich geschätzt zwanzigtausend Teilnehmer in Berlin blieben unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle.

Geht es nur darum, versteinerte Formen des sozialen Protests zu beerdigen? Oder bleiben die „Massen“ fern, weil sie ahnen, daß jede noch so wirkungsvolle Selbstdarstellung am veränderten Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit nichts ändern würde? Nein, die Mobilisierung versagt, weil die Gewerkschaften an der Aufgabe versagen, ihre Forderungen in einen allgemeinen politischen Kontext zu übersetzen. Sie trauen ihren Parolen, ihrer Strategie nicht über den Weg. Der DGB hat einen Gesellschaftsvertrag, ein Bündnis für Arbeit vorgeschlagen. Die Gewerkschaften als schwächere Kontrahenten eines solchen Vertrages brauchen Verbündete. Sie werden sie nur bekommen, wenn sie einsichtig machen, daß ohne sie Deutschland in eine „andere Republik“ abgleitet, ihre Forderungen allein dem entsprechen, was bei uns als Minimum sozialer Gerechtigkeit akzeptiert wird. Die Gewerkschaften müssen, was die SPD nicht will und wohl auch nicht mehr kann: die gesellschaftliche Führung übernehmen. Davon aber war am 1. Mai kein Lufthauch zu spüren. Christian Semler