Vorwärtsparalysiert und rückwärtsgekrümmt

■ Leerfloskeln mit Lebenskrisen: Paul Nizon liest aus unveröffentlichten Werken

Im Canto irrt ein junger Stipendiat durch die Steinwüste Roms. Die wirkliche Stadt erreicht er jedoch nie. Es ist ein Prosagesang mit atemloser Satzrhythmik, der im Schnelldurchlauf über die Piazzen und durch die Nachtclubs gleitet.

Im schon fast 35 Jahre alten Buch des Schweizer Autors war wirklich alles drin, was Kultstatus versprach. Der verzweifelte Wunsch, gehört zu werden zum Beispiel, oder die auffällige Nähe zur dandyesken Avantgarde zwischen Seine und Tiber. Die Überführung der Kunst ins Leben wurde vom Canto ebenso besungen wie müßiggängerische Journalistenzirkel, für die Federico Fellinis Film La Dolce Vita ihm Pate stand.

Es folgten weitere Monologe, für die der Titel einer Textsammlung, Aber wo ist das Leben, Programm wurde. Der schmale Entwicklungsroman Stolz (1975), das Paris-Buch Das Jahr der Liebe (1981) und Im Bauch des Wals (1989) runden diese systematische Suche ab.

Nizons Projektions-Ichs marschieren durch verdüsterte Wolken europäischer Metropolen, hoffen dabei, auf erhellende Gucklöcher zu stoßen, um sie in luftige Assoziationsketten zu schleusen. Vor zwei Jahren erschien Die Innenseite des Mantels, ein nachlässig herausgegebenes und kunstlos angelegtes Tagebuch, über das man sich eigentlich nur ärgern kann. Seitenlang werden Träume nacherzählt, selbstverliebt klebt der Poet an seinen Wehwehchen, ständig beklagt er seine Unfähigkeit, aus der eigenen Biographie eine Form herauszuschlagen. Kein Wunder, daß ihn immerzu eine Schreibblockade plagt: „Vorwärtsparalysiert und rückwärtsgekrümmt sitze ich da ...“

Permanent greift Paul Nizon in seinem schriftstellerischen Werk nach Leerfloskeln wie „am Schreiben gehen“, um seiner personalen Poetik eine tragische Tragweite anzudichten. Seine Schreibnöte sind unmittelbar mit seinen Lebenskrisen gekoppelt, betont er energisch, und nur darüber will er auch schreiben.

Heute kann der 67jährige Schweizer auf viel Lob der französischen Literaturkritik zurückblicken. Vielleicht hat man an der Seine mit der poetischen Selbstinszenierung weniger Probleme als hierzulande. Stefan Pröhl Lesung, heute Literaturhaus, Schwanenwik 38, 20 Uhr