■ Um das RAF-Aussteigerprogramm des Verfassungsschutzes ist es wieder ruhig geworden. Aber was ist mit denen, die noch immer gesucht werden? Wie leben die Angehörigen mit der Ungewißheit? Drei Schwestern von Andrea Klump geben Auskunft
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taz: Wie lange habt ihr von eurer Schwester nichts mehr gehört?

Stefanie: Seit 1984 nicht mehr.

Seit wann wißt ihr, daß Andrea als RAF-Mitglied gesucht wird?

Annegret: Im Oktober 1984 hat die Vermieterin sich bei uns gemeldet, und mein Vater und ich haben dann ihre Wohnung entrümpelt und aufgelöst, in der vorher schon das LKA gehaust hatte. Die Fahndungsplakate wurden im Januar 1985 ausgehängt.

Und wie habt ihr auf die Information reagiert, daß eure Schwester RAF-Mitglied sein soll?

Annegret: Ich bin davon ausgegangen, daß das stimmt. Sie war in einem linksradikalen Zusammenhang hier in Frankfurt, hat viel politische Gefangenenarbeit gemacht, also Knast- und Prozeß-Besuche, hat Briefe geschrieben. Das klang plausibel.

Stefanie: Bei mir war das etwas anders: Damals war hier in Frankfurt eine konspirative Wohnung der RAF aufgeflogen, und ich habe angenommen, daß sie vielleicht aus Angst vor einer Verhaftung untergetaucht ist. In der Zeit wurden einige Leute verhaftet und wegen Unterstützung einer „terroristischen Vereinigung“ angeklagt – das konnte hohe Haftstrafen zur Folge haben. Emotional konnte ich mir nicht vorstellen, daß sie richtig dabei ist.

Hattet ihr über RAF und bewaffneten Kampf vorher mal gesprochen?

Annegret: Andrea hat mir viel von der Angehörigenarbeit erzählt, sie hat mir oft auch Infos mitgegeben. Wir haben auch mal über Knastbesuche von ihr geredet. Aber richtig politisch diskutiert haben wir nicht.

Bernadette: Politik war bei uns nie Thema. Wir haben uns gut verstanden und öfter mal gesehen, aber eben als Schwestern ...

Hat es euer Verhältnis zu Andrea verändert, als sie abgetaucht ist und plötzlich als RAF-Mitglied gesucht wurde?

Annegret: Für mich war es schwierig. Ich bin in der ersten Zeit immer herumgerast und habe befürchtet, sie würde jeden Tag festgenommen, weil überall die Fahndungsplakate mit ihrem Foto hingen. Dann habe ich versucht, mich darauf vorzubereiten – aber ich wußte nicht wie. Außerdem hatte ich ungeheure Angst, daß sie bei einer Festnahme erschossen wird. Eine Zeitlang war ich auch wütend auf sie, weil sie einfach weggegangen ist. Wir haben ahnungslos dagestanden und mußten uns aus den Sachen, die wir in ihrer Wohnung gefunden haben, ein Bild von ihrer letzten Zeit in der Legalität zusammensetzen. Später gab es eine Phase von Trauer, weil sie mir gefehlt hat. Und über die Zeit gewöhnt man sich daran, daß sie nicht mehr da ist. Bis dann jetzt eben diese Aussteigermeldungen kamen, die alles haben hochkochen lassen.

Stefanie: Für mich gab es zwei Seiten: Was heißt es politisch, wenn sie tatsächlich bei der RAF ist und für die Aktionen Verantwortung trägt? Wie finde ich da einen eigenen Standpunkt, ohne Andrea zu denunzieren und zu verraten, denn sie ist ja auf jeden Fall unsere Schwester? Und die zweite Seite war: Was heißt das für uns? Das ist schon eine Belastung: eine Schwester zu haben, von der man nicht weiß, wie es ihr geht, was sie macht, die jederzeit verhaftet werden kann und die man dann für den Rest des Lebens nur noch im Knast wiedersieht.

Was heißt, einen eigenen Standpunkt finden, ohne deine Schwester zu verraten?

Stefanie: Andrea wurde anfangs angelastet, daß sie an der Ermordung des GI Edward Pimental beteiligt gewesen sein soll, den die RAF 1985 erschossen hat, weil sie seine ID-Karte brauchte. Das war für mich ein Schock, weil ich das von Anfang an unmöglich fand, einen jungen Typen hinzurichten, nur weil man seine Karte braucht. Ich fand das nicht zu verantworten. Das hat ein Stück Distanz geschaffen, weil ich mich gefragt habe: Was ist, wenn sie tatsächlich an diesem Mord beteiligt war? Aber auch das hat an meinen Schwestergefühlen nichts geändert.

Hat sich denn eure Einstellung zu Andreas Illegalität über die Jahre verändert? Verschwindet jemand mit zunehmender Zeit aus dem eigenen Leben?

Annegret: Für mich ist Andrea zu einer Art Phantom geworden: Sie ist eine Schwester, sie existiert, aber niemand weiß wie und wo. Wir denken oft an sie; nicht wie an eine Verstorbene, aber es ist etwas merkwürdig Ungreifbares. Wir haben die ersten zwei Jahre in der taz Geburtstagsanzeigen für sie geschaltet, in der Hoffnung, daß sie die vielleicht liest. Aber das haben wir schließlich aufgegeben. Heute stell' ich mir manchmal vor, wie sie wohl aussieht: 13 Jahre älter geworden, mit Falten ...

Stefanie: Ich hatte letztes Jahr eine seltsame Begegnung. Ich bin nach Hause gefahren, eine Frau lief die Straße lang und ich war sicher: Das ist die Andrea! Ich hatte vorher gar nicht an sie gedacht. Und daran habe ich gemerkt, daß sie eben ganz fest in meinem Leben drinsitzt, daß ich immer damit rechne, daß sie plötzlich auftaucht und da ist. Ich bin der Frau dann nachgefahren, weil ich gucken wollte. Sie war es natürlich nicht.

In unserer Familie ist in den Jahren auch viel passiert. Unsere Mutter ist gestorben, unser Bruder ist gestorben, und sie hat das alles nicht mitbekommen, war nicht bei der Beerdigung. Sie fehlt, ist aber noch da. Wir konnten von ihr nie Abschied nehmen, das ist zum Beispiel der Unterschied zum Tod unseres Bruders: Der ist bestimmt und endgültig, damit können wir umgehen.

Akzeptiert ihr das, daß sie sich nie gemeldet hat in all den Jahren?

Bernadette: Es bleibt uns nichts anderes übrig.

Stefanie: Ich habe mir manchmal schon gedacht: Sie könnte doch mal anrufen! Oder eine Kleinanzeige irgendwo schalten oder irgendwas. Das ist naiv gedacht von mir. Aber ich hätte es trotzdem gern, daß ich einfach weiß, es ist alles in Ordnung.

Annegret: Das ist natürlich schwierig, denn wir werden sicher überwacht. Und ich will nicht, daß ein Kontakt mit uns um den Preis zustande kommt, daß sie sie dafür erwischen und sie in den Knast muß.

Stefanie: Sich bei uns zu melden, ist für sie auch deswegen schwierig, weil sie wahrscheinlich gar nicht weiß, wie wir zu ihr und dem, was gelaufen ist, stehen, was wir für eine Haltung dazu haben.

Annegret: Da hat sich bei uns auch sicher einiges verändert. In der Anfangszeit nach ihrem Abtauchen kam das BKA regelmäßig zu uns Schwestern, die wir hier in der BRD leben. Da wir fast alle von unserem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machten, blieb es bei dem einmaligen „Besuch“. Während der ersten zwei Jahre war das BKA häufiger bei unseren Eltern und versuchte Informationen über Andrea und ihre FreundInnen herauszubekommen. Und erst als unser Vater, der damals schon über siebzig war, sich Fingerabdrücke abnehmen lassen und sich Stimmproben anhören mußte, konnten sich unsere Eltern abgrenzen. Sie verbaten sich weitere „Besuche“ des BKA.

Bernadette: Und jetzt ist vor anderthalb Jahren der Verfassungsschutzagent Benz noch mal bei unserem Vater aufgekreuzt. Er hat ihn kurzfristig angerufen, so nach dem Motto, ich bin zufällig gerade hier in der Gegend, kann ich mal kurz vorbeikommen. Unser Vater hat ihn aber gleich wieder weggeschickt. Er wollte nicht mit ihm reden und hat sich ungeheuer aufgeregt.

Als Christoph Seidler jetzt zurückgekommen ist, hat das bei euch doch sicher auch Hoffnungen ausgelöst, daß Andrea vielleicht auch zurückkommen könnte.

Stefanie: Das war das erste, was uns durch den Kopf geschossen ist: Was können wir tun, damit Andrea zurückkommt. Zuerst habe ich auch gedacht, die Zusammenarbeit mit Benz könnte ein Weg für sie zurück in die Legalität sein.

Annegret: Das habe ich von vornherein anders gesehen, weil ich aus meiner zeitweiligen Mitarbeit in der Angehörigengruppe über Benz ganz gut Bescheid wußte, wie er seine Deals einfädeln will und was der Preis einer solchen Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst ist. Ich denke, daß es auch andere Möglichkeiten gibt zurückzukommen, als mit dem Verfassungsschutz zu verhandeln – wie bei Thomas Simon, der ist auch ohne Benz zurückgekommen.

Stefanie: Wir haben darüber auch geredet, und letzten Endes hat die Tatsache, wie es bei Christoph Seidler weitergelaufen ist, auch gezeigt, daß das kein Weg für Andrea ist. Benz kann eben keine Garantien geben. Wenn Andrea selbst allerdings mit Benz zusammenarbeiten wollte, würde ich das wohl auch akzeptieren. Aber das müßte ihre Initiative sein, nicht unsere.

Annegret: Ich finde die Kooperation mit Benz prinzipiell nicht akzeptabel. Ich denke, er profitiert auch davon, daß Illegale, die im Exil gelebt haben, die Verhältnisse in der BRD oft nicht sehr genau kennen. Sie können deswegen schlecht einschätzen, wie die Lage ist, was geht und was nicht geht. Ich würde deswegen auf jeden Fall mit Andrea reden wollen, bevor sie sich in so einer Frage entscheidet. Außerdem gibt es bei Andrea – auch wenn sie den Vorwurf, sie sei an dem Herrhausen-Anschlag beteiligt gewesen, wohl fallenlassen müssen – noch einen anderen Vorwurf in ihrem Haftbefehl: Sie soll im spanischen Rota 1988 an einer Schießerei beteiligt gewesen sein. Bei der Flucht dort sollen Papiere zurückgelassen worden sein, auf denen angeblich Andreas Handschrift zu erkennen war. So was zu widerlegen, hilft dir kein Benz. Das BKA hat seine Schriftgutachter, die fast alles zuordnen, wie es gerade paßt. Da muß man also sowieso eine andere Möglichkeit finden.

Nachdem Christoph Seidler aufgetaucht ist, veröffentlichte der Spiegel die Behauptung, Andrea stehe auch in Verhandlungen mit Benz, befinde sich in Peru und käme nur aus persönlichen Gründen nicht zurück. Wie kam das zustande?

Annegret: Das hätten wir auch gerne gewußt. Nach allem, was wir wissen, ist diese Behauptung jedenfalls falsch. Mit Benz steht Andrea nicht in Kontakt, sonst würde der hier nicht so rumbaggern, um zu erfahren, ob wir was von unserer Schwester gehört haben. Ich habe damals beim Spiegel angerufen und nach der Quelle gefragt. Die meinten, die sei absolut zuverlässig, sie könnten sie mir aber wegen des Informantenschutzes nicht preisgeben. Als ich einwandte, daß es schließlich um meine Schwester gehe, haben sie geantwortet: Jaja, das verstünden sie, sie würden sich noch mal melden. Das haben sie natürlich nie gemacht. Ich denke, die „Quelle“ des Spiegel ist das BKA. Das zeigt auch, wie zuverlässig diese Information ist. Wenn das BKA wüßte, daß Andrea in Peru ist und nur aus „persönlichen Gründen“ nicht zurückkommt, dann würden sie dorthin fahren und sie verhaften. Die bundesdeutsche Polizei ist sonst auch nicht so rücksichtsvoll.

Außer Christoph Seidler hat auch Eva Haule, eine Gefangene aus der RAF, gesagt, daß eure Schwester nicht in der RAF war. Hat euch das überrascht?

Annegret: Wir haben es im Zusammenhang mit Christoph Seidler aus der Zeitung erfahren. Die Aussage hat sie aber schon im Juli gemacht. Da wäre es doch kein Problem für sie gewesen, außer der Bundesanwaltschaft auch die Verwandten zu informieren. Ich war immerhin fünf Jahre in der Angehörigengruppe. Das wäre über den Anwalt auch kein Problem gewesen. Aber nein. So ist es ziemlich ärgerlich.

Was wünscht ihr euch denn, wie es jetzt mit euch und eurer Schwester weitergehen kann?

Stefanie: Ein Grund für dieses Interview ist: Wir wollen, daß sie es lesen kann, damit sie weiß, was wir denken – und mit „wir“ meine ich uns Schwestern und unseren Vater. Andrea soll wissen, daß sie auf jeden Fall unsere Unterstützung hat. Es muß für sie ja auch schwierig sein: Sie hat nicht nur eine Schwester, die nicht mehr da ist, sondern sieben Schwestern, die fehlen. Interview: Oliver Tolmein