„Ich Jammerlappen!“

Ein Mann ist schwerbehindert und lebt in der eigenen Wohnung. Jetzt droht seine Pflege unserer Gesellschaft zu teuer zu werden: Statt Solidarität gibt es bald einen Heimplatz. Ein selbstbewußter Brief an die Nichtbehinderten  ■ von Matthias Vernaldi

Stellen Sie sich vor, Ihr Alltag wäre bis ins Intimste reglementiert. Sie könnten nicht darüber verfügen, was Sie essen und wann. Ihnen würde vorgegeben, wann Sie aufstehen und zu Bett gehen. Es läge nicht in Ihrer Hand, wie oft Sie baden und welche Frisur Sie tragen. Wie Sie Ihre Wohnung einrichten, stünde schon deshalb nicht zur Debatte, weil Sie gar keine Wohnung haben, sondern nur ein Zimmer, das Sie vielleicht auch noch mit jemandem teilen müßten.

Hinnehmen müßten Sie, daß man penibel registriert, wann jemand zu Besuch kommt. Und auch wieder geht. Denn über Nacht dürfte niemand bleiben, höchstens mit Antrag und Genehmigung. Sie wollen Ihr Geld selbst einteilen? Unsinn: Das machten ohnehin andere. Miete und Lebensunterhalt würden gleich von Ihren Einkünften abgezogen, Sie bekämen nur ein Taschengeld zugeteilt.

„Wie im Knast“, werden Sie sagen. Stimmt! Nicht nur Strafgefangene müssen so leben. Behinderten im Heim geht es nicht viel anders. Und es ist fast immer lebenslänglich.

Ich bin muskelkrank und seit meiner Kindheit auf Pflege angewiesen. Muskelschwund schreitet stetig voran. Ich befinde mich seit einigen Jahren in einem Zustand, der medizinisch gesehen die Endphase der Krankheit darstellt. Das heißt, ich kann mich – bis auf einige kleine Bewegungen mit der Hand und dem Kopf – nicht mehr rühren. Bei einem Steak oder einem Brötchen kapituliert spätestens nach dem fünften Bissen meine Kaumuskulatur. Auch der Kreislauf ist schnell ermattet, und wenn ich mich verschluckt habe, brauche ich Unterstützung beim Abhusten.

Ich lebe nicht in einem Heim, sondern in meiner Wohnung. Mein Tag beginnt mit zwei Assistenten, die mich duschen, zur Toilette bringen, ankleiden und in den Rollstuhl heben. Es müssen zwei sein, weil ich sehr schmerzempfindlich bin. Sie achten darauf, daß meine Knie nur gering gestreckt, die Fußgelenke nicht belastet und die Beine im Hüftgelenk nicht abgewinkelt werden.

Zum Frühstück genügt ein Assistent. Er muß mir das Essen reichen, die Teetasse ansetzen, Krümel vom Pullover putzen. Auch später wird er gebraucht, denn ich muß meine Sitzhaltung verändern, benötige Handreichungen. Zur Tagesruhe und nachts sind wieder zwei Pflegepersonen erforderlich. Selbst wenn ich schlafe, komme ich ohne Hilfe nicht aus. Ich muß gedreht werden, Abhusthilfen erhalten oder etwas zu trinken bekommen.

Ich koste 25.000 Mark im Monat. Bin ich das wert?

Ich leite meine Assistenten bei meiner Pflege an, weil ich der beste Experte in meiner Sache bin. Nur ich kenne die Schmerzpunkte meines Körpers genau; nur ich weiß, wie fest ich angefaßt werden kann; nur ich weiß sicher den Punkt, an dem Atemunterstützungen nötig sind. Arbeit im Haushalt erledigen meine Assistenten. Ich kaufe mit ihnen ein, gehe zu Freunden oder Veranstaltungen. In Berlin, wo ich wohne, haben Behinderte vor 15 Jahren die Ambulanten Dienste e.V. gegründet; das ist ein Pflegedienst, der die Selbstbestimmung der Hilfenehmer in seinen Statuten ausdrücklich benennt und der es mir ermöglicht, meine Assistenten selbst auszusuchen.

Meine Pflege kostet monatlich über 25.000 Mark. Ich bin Rentner und Sozialhilfeempfänger. Deshalb muß außer einem Betrag von etwas mehr als 3.700 Mark, den die Pflegeversicherung aufbringt, den Rest das Bezirksamt tragen. „Der kostet ja den Steuerzahler mehr als ein Abgeordneter!“ werden Sie jetzt denken, vielleicht auch: „Das ist entschieden zu teuer.“ Die Bundespolitiker sehen das genauso. Sie meinen, mit der Einführung neuer Abrechnungsmodalitäten (sogenannter Module) und der Sozialhilfereform bei Leuten wir mir sparen zu können.

Die Module verrechnen die Pflege nicht mehr nach Zeitaufwand, sondern nach Leistungen. Ein Pflegedienst könnte zum Beispiel nur dann wirtschaftlich arbeiten, wenn ich morgens nicht länger als 45 Minuten zum Aufstehen und zum Klogang maximal acht Minuten brauchte. Derart knappe, bei Schwerbehinderten unpraktikable Maßgaben können nur im stationären Bereich erstellt worden sein, zudem nur in einem, in dem Leute wie ich gleich im Bett gelassen oder im Nachthemd in den Rollstuhl gehoben und vor der Glotze abgestellt werden. Ein Pflegedienst kann mit den Modulen natürlich auch dann ökonomisch arbeiten, wenn er betrügt, wenn ich etwa abrechnungstechnisch viel öfter auf der Toilette war als in Wirklichkeit.

Härter noch trifft Menschen mit einem hohen Hilfebedarf die Sozialhilfereform vom Juli 1996. Daß sie beanspruchen können, was für Sie als Nichtbehinderte selbstverständlich ist, nämlich Privatheit, körperliche Autonomie und Intimität, war auch bisher nicht selbstverständlich. Oft waren lange Kämpfe nötig, um umfangreiche ambulante Hilfe bezahlt zu bekommen. Doch es gab mit dem Paragraphen 3a des Bundessozialhilfegesetzes, der den Vorrang der ambulanten Hilfe vor der stationären Hilfe garantierte, eine gesetzliche Grundlage, die von allen Behinderten genutzt werden konnte. Der neue Paragraph 3a nimmt die Garantie der ambulanten Hilfe zurück. Nun wird ein Heimplatz finanziert, sobald er billiger ist und es halt „zumutbar“ erscheint...

In einem Heim wäre ich wahrscheinlich schon gestorben. Jedenfalls sind mittlerweile alle tot, die ich in meinem Alter mit Muskelschwund und vergleichbaren Krankheiten kannte und die im Heim leben mußten. Ich habe sie um zehn, mitunter zwanzig Jahre überlebt. Einige sind an Herzversagen gestorben, andere am eigenen Schleim erstickt, bevor die Krankheit überhaupt das finale Stadium erreichte. Warum? Die Mehrbettzimmer, die Ödnis der Anstaltsflure, das Großküchenessen, das Ghettogefühl – all das ist dazu angetan, sich bei der nächstbesten gesundheitlichen Krise von dieser Welt zu verabschieden.

Aber ich wäre – so selbstbestimmt ich auch lebe – auch schon längst hinüber, wenn nicht jemand an meinem Bett säße, um mir bei Verschleimungen Abhusthilfen zu gewähren. Darüber hinaus muß das ein Mensch sein, der genau weiß, wie in einem solchen Fall mein Arm zu halten, mein Brustkorb zu drücken, mein Schulterbereich zu stützen ist. Das ist nur bei mir und von mir erlernbar, und auch da nur mit einer besonderen Art von Körpersensibilität, die manche haben und manche nicht.

Oft haben übrigens Profipfleger eine derartige Sensibilität gerade nicht. Sie sind beim Pflegeakkord abgestumpft. Leute wie mich, hysterische Jammerlappen, die ihnen vorschreiben wollen, wie sie anzufassen, zu drehen, zu heben sind, können sie besonders gut leiden. Wer also das finale Stadium des Muskelschwunds erreicht, das meist mit hoher Schmerzempfindlichkeit und solchen Extravaganzen wie partieller Atemunterstützung, Kau- und Schluckhilfe oder Stuhlförderung verbunden ist, wäre im Heim ganz schnell dahin. Denn das Leben dort wird zur Schmerzhölle, zum Dauertrip der Angst vorm nächsten Aufstehen, vorm nächsten Frühstück, vorm nächsten Bad.

Soziale Euthanasie: Wer eher stirbt, kostet weniger

Diese Problematik der Reglementierung wohnt dem Heimprinzip ebenso inne wie die Desensibilisierung durch Routine bei einer Pflege, die von Zeit- und Leistungsvorgaben geprägt ist. Behinderte, die im Heim gut zurechtkommen, haben meist einen niedrigen Pflegebedarf und wären – technisch gesehen – mit relativ geringen ambulanten Hilfen in der Lage, zu Hause zu leben. Daß sie das nicht tun, hat viele Gründe. Zu wenige Beratungsstellen und ambulante Dienste gehören genauso dazu wie Gewohnheiten auf seiten der Betreuten. Und deren resigniertes Schulterzucken.

Es mag auch Behinderte geben, die das Heim nicht verlassen wollen, obwohl es die Möglichkeit dazu gibt – ich möchte unter keinen Umständen dorthin. Deshalb machen mir die Veränderungen bei der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe wirklich angst.

Mit der Verweigerung umfangreicher ambulanter Hilfen werden die gesellschaftlichen Fortschritte der letzten 20 Jahre über Bord geworfen. Entgegen den Sonntagsreden von der Integration Behinderter soll deren Aussonderung wieder festgeschrieben werden. Ihre Menschenwürde wird zum Luxus, der eingespart werden kann. Schon allein, daß alte und behinderte Menschen in der öffentlichen Diskussion als Kostenfaktoren auftauchen, die den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährden, ist brisant für die gesamte Gesellschaft – vor allem aber für uns Betroffene.

Zudem: So viel kann hierzulande mit Heimunterbringungen gar nicht gespart werden. Insgesamt ist nämlich ambulante Pflege billiger als stationäre. Wer nicht mehr als acht Stunden Pflege täglich benötigt, kostet zu Hause weniger. Die meisten im Heim Untergebrachten zählen dazu. Wenn auch noch die Zuschüsse und Subventionen, die der Bau und der Betrieb von Heimen verschlingen, hinzugerechnet werden, gibt es auch finanzielle Argumente, die gegen die Abschiebung ins Heim sprechen.

Wirklich sparen läßt sich nur mit der unmenschlichen Variante, die unsereins als soziale Euthanasie bezeichnet: Wer im Heim eine drastische Verringerung seiner Lebensqualität erlebt, stirbt eher: Denn selten sind es die Medikamente, die am Leben erhalten, oft ist es schlichter Lebenswille! Und der wächst nicht gerade im alltäglichen Einerlei zwischen Bett, Fernseher und Computermonitor. Wer eher stirbt, kostet weniger.

Gut, das sind Spekulationen und böse Unterstellungen. Und die Realität ist ja schon alarmierend genug.