Rosinen picken aus dem Kriegstanz

■ Enttäuschende Eröffnung der Ballett-Tage mit John Neumeiers neuer „Hamlet“-Choreographie

An diesen Szenen hätte Klaus Theweleit seine helle Freude: an den hurtig springenden Soldaten, die ihre Brustwarzen mit Netzhemden betonen, ihre Waden in stramme Stiefel pressen und ihre Köpfe in niedlich kugelige Helme stecken. Dänemark kämpft gegen Norwegen, von Beginn des ersten Aktes bis kurz vor Schluß des dreistündigen Hamlet, der am Sonntag in der Staatsoper Premiere hatte und die 23. Hamburger Ballett Tage eröffnete.

Der Krieg ist nicht nur belastend, sondern auch doof. Das weiß Choreograph John Neumeier und läßt keine Gelegenheit aus, es uns zu zeigen. Frauen übrigens spreizen die Beine, um unglückliche Hamlets zur Welt zu bringen, und sie tun dies in reinen, weißen Seidenkleidern. Allenfalls präsentieren sie noch die zukünftigen Mannsbilder dem Publikum, dann aber wählen sie pfirsichfarbene Garderobe. Das Hamlet-Kind wiederum ist friedliebend und will nicht schießen, auch nicht mit der Wasserpistole. Die brave Ophelia aber ist ein Mädchen und will nur die Blumen bewundern, was sie ausgiebig tut. Und so rumpeln die Bilder weiter, den ganzen ersten Akt über.

Hatte Neumeier keine Zeit? Oder ist er zu professionell geworden? Oder zu abgebrüht? Er choreographiert auf Sinfonien von Michael Tippett und übergeht dabei ständig die Details der Musik. Er zitiert sich fortlaufend selbst oder klaut vom Kollegen Mats Ek. Selten macht er sich die Mühe, Bewegungen aus der Körperlogik heraus zu finden und zu verdichten.

Dabei heißt der Lohn solcher Arbeit berührende Bilder. So etwa, wenn Hamlet fast wieder Kopf steht, seine Hand suchend gen Himmel gestreckt. Der Vater geht in Zeitlupe an ihm entlang, um Haaresbreite berühren seine Fingerspitzen die des Sohnes. Beinahe begegnen sich noch einmal Vergangenheit und Gegenwart. Aber eben nur beinah.

Und noch mehr Rosinen kann man mit viel Mühe herausklauben aus diesem Hamlet: Anna Polikarpova wechselt als Ophelia spielend von einer Verrücktheit in die nächste – vor allem bei ihrem letzten Gang ins Wasser, einer überraschend phantasievollen Choreographie. Lloyd Riggins verkörpert überzeugend lässig den ständig abgelenkten Hamlet, der mitten im pas de deux mit der Geliebten einfriert, weil er hinter sich sein Gepäck bemerkt.

Allesamt wechseln die Akteure wie im Fluge die Kleider, vom Maxikleid mit Rollkragen zum Jahrhundertbeginn bis zum wiederkehrenden Pullunder zum Jahrhundertausgang. Klaus Hellenstein heißt der Ausstatter, der auch für das sparsame, funktionale Bühnenbild zeichnet. Mit beweglichen Stoffbahnen teilt er die Bühne in immer neue Imaginationsräume. Hielte sich Neumeier mehr fern von allem Abgenutzten, sie hätten gefüllt werden können.

Gabriele Wittmann