All das Ziehen und Drängen...

Da steht er, der Schwarm unserer Urgroßmütter, ölt einen noch immer nachhaltig mit seinem Blick und schert sich nicht um seine anschwellende Birnenform. Da steht Josef Kainz – eine Legende.

1858 geboren, 1910 gestorben, Schauspieler unter anderem am Burgtheater Wien und am Deutschen Theater Berlin, war er „ein Hauptrepräsentant des Zeitgeistes im mimischen Bereich“, wie Julius Bab 1928 in seinem Buch „Theater der Gegenwart“ schrieb: „Alles was in der Kultur des endenden Jahrhunderts an bebender Nervosität, an Ekel vor dunkel brodelnden Häßlichkeiten, aber auch an schwingender Sehnsucht nach Befreiung und Schönheit aufgespeichert war, das fand sich in der Stimme und der Geste dieses Schauspielers verkörpert.“ Wer könnte Entsprechendes heute von sich sagen? Bruno Ganz? Gert Voss? Herbert Fritsch?

Und dann schaltet man den CD- Player ein und hört ihn, Kainz, auf der dt-cd1, höchstpersönlich Goethes „Prometheus“ deklamieren: „Bedecke deinen Himmel Zeus...“ Wild tremolierend, fast singend, der ganz, ganz hohe Ton. Aber das ist noch nichts im Vergleich zu Alexander Moissi (1879 bis 1935), dem Wunderknaben im Ensemble von Max Reinhardt, der drei Tracks weiter „Novemberwind“ („...den wiillden Nofemmberwiinnd...“) von Verhaeren zelebriert!

Von wann die Aufnahmen sind, wird im Booklet nicht erwähnt. Aber die dt-cd 1 ist eben nicht das Ergebnis eines theatergeschichtlichen Projekts, sondern einer spontanen Idee des Berliner Fotografen Frank Splanemann in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Theater. Kurzfristig stellte er aus dem Tonarchiv des Hauses eine Sammlung von 17 Originalausschnitten zusammen, eingespielt von Schellackplatten oder gar Edison-Wachswalzen: Max Reinhardt spricht „Über den Schauspieler“, Paul Wegener den Nathan, Tilla Durieux ist zu hören, Albert Bassermann, Werner Krauss oder Eduard von Winterstein. Lauter Hamlets, Strieses und Franz Moors, seltsam berührend in ihrer Hingabe und niemals so heute noch denkbar.

Das eben ist das Bemerkenswerte daran: Nicht nur hehre Bühnenkunst von damals weht einen beim Hören an, nicht nur die Tonspur von Mimen, denen die Nachwelt keine Kränze flicht, sondern auch ganz unverhofft ein Bewußtsein für das Heute. All das Schnarren und dräuende Nuscheln, die verbale Pose, das Ziehen und Drängen – als schierer Dienst an der Kunst ist das vorbei. Man lechzt im Parkett nicht mehr nach Erbauung, nach quasireligiöser Erhebung, sondern verlangt ganz selbstverständlich, daß in der klassischen Welt die eigene verhandelt wird. Mehr Sag-es-mit-Goethe als Hinan-hinan! So hält man mit der dt-cd 1 vor allem das Medium einer akustischen Zeitreise in den Händen: ein doggy-bag des Wunderbaren, in dem die Botschaft als Geräusch erhalten bleibt. (Bezug: Deutsches Theater, Schumannstraße 13a, 10117 Berlin) Petra Kohse