Film ab, Ton läuft!

■ Cannes feiert sich selbst: Zum 50. Mal startet heute der Wettbewerb um die Goldene Palme. Eine Geschichte des wichtigsten Filmfestivals der Welt von Mariam Niroumand

Film ab, Ton läuft!

Schon recht, Venedig hatte das erste Filmfestival der Welt, aber das würdigste war es nicht. 1932 ins Leben gerufen, 1938 fest in der Hand Mussolinis und zunehmend auch der Nazis, lehnte die Kommission Frankreichs Wettbewerbsbeitrag, „Die große Illusion“ von Jean Renoir, ab, und der Eklat war da. Einen kurzen Streit zwischen Biarritz und Cannes, wer künftig dem neuen Festival eine Heimat bieten sollte, entschieden die Notablen von der Côte d'Azur einfach dadurch zu ihren Gunsten, daß sie schon ein Palais fürs Festival entworfen hatten.

Die Premiere sollte in den ersten Septemberwochen 1939 stattfinden. Ein Schiff voller Stars stach von New York aus in See; an Bord Gary Cooper, Mae West, Tyrone Power, Douglas Fairbanks und Norma Shearer. Zehn Filme hatten sie als Präsente zu offerieren, darunter „The Wizard of Oz“. Zur Feier des Eröffnungsfilms, „Der Glöckner von Notre Dame“, ließ man eine gigantische Rekonstruktion der Kathedrale aus dem Hafenbecken aufsteigen. Aber in den Morgenstunden des Eröffnungstages war Hitler in Polen einmarschiert, und so trennte man sich nach Charles Laughtons großem Auftritt.

Erst ein Jahr nach Kriegsende trafen man sich wieder; diesmal sang Grace Moore die Marseillaise zur Begrüßung, Rossellini zeigte „Rom – offene Stadt“, ein Feuerwerk blitzte über dem Hafen, und alles weinte und lachte. 1948 und 1950 fiel das Festival aus, weil's an Geld fehlte: Deshalb gibt es erst dieses Jahr den 50. Wettbewerb um die Goldene Palme.

Ehrwürdig und getragen ging es in den ersten Jahren zu. Jean-Paul Sartre und Jean Cocteau dominierten die Szene, aber auch der Fürst und die Fürstin von Windsor, der Playboy Ali Khan, der hier Rita Hayworth ehelichte, und dem ein paar Jahre später Grace Kelly und Prinz Rainier von Monaco folgten. Auch die Filme waren eine Art Staatsakt; bis 1972 wurden sie nicht von einem Festivalkomitee, sondern von den einzelnen Staaten selbst ausgesucht. Man kann sich vorstellen, was das in den fünfziger Jahren bedeutete. Während im Hafen vor dem Palais stets die sechste amerikanische Flotte ankerte, zeigten die Russen im Film Kommunismus mit menschlichem Antlitz. Einmal, 1958, haben sie damit sogar gewonnen: Die Goldene Palme ging an „Wenn die Kraniche ziehen“.

Der echte Cannes-Sexappeal, der das Festival soviel mehr leuchten läßt als seine beiden Hauptkonkurenten in Venedig oder Berlin (seinerseits ein echtes Produkt des Kalten Krieges), entstand im Moment des berühmten Robert- Mitchum-Skandals. Mitchum, 1947 hinter vorgehaltener Hand noch als ungeschlachter amerikanischer Bauerntölpel verlacht, kehrte nach einem Gefängnisaufenthalt (Marihuana) 1954 als umschwärmter böser Bube zurück. Am Strand ließ er sich mit dem Starlet Simone Silva fotografieren, die zu seiner und der Fotografen Freude barbusig auf ihn zukam. Am nächsten Tag wurde sie gebeten, Cannes zu verlassen. Sie ging nach Hollywood und brachte sich um, als die Studios sie boykottierten. Noch heute hat die Parade der Riesenbrüste am Strand, wie sie seither Routine ist, etwas leicht Verzweifeltes.

Der Vorwurf des Snobismus rollte so sicher auf Cannes zu wie die Sixties auf Paris. François Truffaut schrieb wütende Attacken gegen das Festival, bis ihm bedeutet wurde, er sei an der Croisette unerwünscht. Im Mai 1968 versammelten sich in Paris die „Generalstände des Kinos“, die gegen den „Akademismus“ der französischen Filmkunst polemisierten. „Nie zeigt dieses Kino, und das kann ich ihm nicht verzeihen“, schrieb damals Jean-Luc Godard, „die Mädchen so, wie wir sie lieben, nie die Jungen, wie man sie überall sieht, nie die Eltern, wie man sie verachtet oder bewundert, die Kinder, wie sie einen erstaunen oder gleichgültig lassen – kurz: nie die Dinge, wie sie wirklich sind.“

Einige Delegierte der „Generalstände“ wurden entsandt, um das Festival zu stoppen; Truffaut und Godard waren dafür, Roman Polanski, damals Mitglied der Jury, war dagegen – nicht zuletzt wegen der Erinnerungen an den Antifa- Ursprung des honetten Filmfests. Dennoch wurde es abgebrochen. Ein Jahr später war die Lage entspannter: Jack Nicholson, Dennis Hopper und Peter Fonda, mit schönen Bärten und Ketten von der Westküste eingeflogen, mußten zwar die Palme an Lindsay Andersons „If“ abgeben, hatten aber mit „Easy Rider“ den amerikanischen Independents ihr Entree verschafft, die seither von „Taxi Driver“ (1976) über „Apocalypse Now“ (1979), „Sex, Lies and Videotape“ (1989) und „Barton Fink“ (1991) bis zu „Pulp Fiction“ (1994) – offen gesagt – das Schönste an Cannes sind. Eine umfassende Reform ließ mehr Spielraum für sogenannte Experimente: Die Nebenreihe „La Quinzaine de Realisateurs“, in der Wim Wenders oder Jim Jarmusch Filme vorstellten, macht dem Wettbewerb inzwischen ungemütlich Konkurrenz. Entscheidendes Novum aber war die Einrichtung des Filmmarkts, die inzwischen, mit der Internationalisierung des Busineß, für viele der Hauptgrund ist, nach Cannes zu kommen. Nachdem die großen Studios in den siebziger Jahren ihre europäischen Produktionsfirmen geschlossen hatten, konnten die Unabhängigen zur Globalisierung ansetzen. Multinationale Deals bringen es mit sich, daß heute jede Menge Anwälte, Agenten und Einkäufer die Szene bevölkern. Von 300 Akkreditierten 1946 ist das Festival deshalb inzwischen bei 28.000 angekommen.

Einige eingeladene Filmemacher werden freilich dieses Jahr fehlen müssen: Dem chinesischen Regisseur Zhang Yimou, der zu den Stammgästen an der Croisette gehört, wurde die Teilnahme seiner Intellektuellen-Komödie „Keep Cool“ am Wettbewerb von den Pekinger Autoritäten verboten. Auch Zhang Yuans „East Palace, West Palace“, ein Film über Homosexuelle in China, darf nicht aufgeführt werden. Und schließlich hat sich Festivalleiter Gilles Jacob vergeblich bei den iranischen Behörden bemüht, Abbas Kiarostamis Film „Der Geschmack der Kirsche“ zeigen zu dürfen.

Französische Filmemacher zusammen mit Sprechern der Immigrantenbewegung sorgen dafür, daß Cannes nach langen Jahren wieder einmal politisiert wird. Vor den französischen Filmen im Wettbewerb werden sie im Einverständnis mit Festivaldirektor Gilles Jacob „Wir, die Papierlosen von Frankreich“ zeigen. Der Dreiminutenfilm, eine Koproduktion zahlreicher junger Filmemacher, ist nach der Protestbewegung gegen die Immigrationsgesetze im Februar dieses Jahres entstanden.

Die taz informiert ab Freitag in einer täglichen Kolumne aus Cannes über den Wettbewerb und das Drumherum.