■ Die 20er Jahre
: Schwulsein war einfach schick

Den Vorfall umschrieb der Schuldirektor vornehm. Die Jungs seien in einer schwierigen Phase, warb er im Lehrerkollegium um Verständnis, und den gleichen Satz notierte er ins Mitteilungsheft, das der 13jährige Pennäler seinem alten Herrn vorlegen mußte. „Unangenehm“ erinnert sich Joachim Richter. Er kannte ja seinen alten, erzkatholischen Vater.

Geschlechtliche Dinge waren im Hause der Beamtenfamilie Richter kein Thema. Wie in vielen Familien Mitte der 20er Jahre, kurz nach dem Ende der prüden wilhelminischen Ära. Und nun sollte der strenge Vater erfahren, daß der Sohn beim Wichsen im Fahrradkeller seines humanistischen Gymnasiums ertappt worden war. „Unangenehm.“

Der Vorfall wurde rasch abgehandelt, dem Vater war's fürchterlich peinlich, über das Thema zu reden. „Bis zu seinem Tod hat er nicht gewußt, daß ich homosexuell bin.“ Und die Mutter habe erst, als sie 80 war, indirekt durchblicken lassen, daß sie ahnte, was mit dem Sohne los ist – mit einer Andeutung: „Da drüben wohnt ein Herr, der hat sich einen jungen Menschen mitgenommen.“

Irgendwie, sagt Joachim Richter heute, sei Schwulsein in den 20er Jahren schick gewesen. Am Deutschen Theater und später am Staatstheater „tölte Gustaf Gründgens auf der Bühne“. Er brillierte mit Pantomime, tänzerischem Können und ließ den extravaganten Revue-Star raushängen – so in der Art: „Mein Gott, wir sind so vornehm.“ Ja, Schwule seien damals vornehm gewesen. Im Berlin der wilden 20er Jahre gab es etwa 40 Lokalitäten, in denen Homosexuelle beiderlei Geschlechts und kunstvoll aufgetakelte Transvestiten verkehrten. Im Scheunenviertel zum Beispiel, aber vor allem am Nollendorfplatz in Schöneberg. „Golfstrom“ sei die Gegend damals genannt worden, erinnert sich Joachim Richter, gemeint als galante Umschreibung für eine warme Bewegung. Zum Beispiel das Kleist-Casino in der Kleiststraße und Freddy Kaufmanns Jockey-Bar in der Keithstraße. „Das Publikum war allerdings gemischt“, sagt Joachim Richter, „nicht rein schwul wie heute“. Mondän sei es zugegangen bei Freddy Kaufmann; das Piano erklang bis in den frühen Morgen, und er, Joachim Richter, der „nicht so schlecht aussah“, hatte es leicht, eine Liebelei zu finden. „Ja, ich kann sagen, ich wurde begehrt.“

Die erste große Liebe. Ein Primaner, dem Joachim Richter Nachhilfestunden gab, und mit dem er nachmittags konditern ging. Alles war ein wenig heimlich, „man zeigte sich nicht so in der Öffentlichkeit, das fand ich immer angenehm“. Ob es richtig ist oder allzu provokant, daß sich Männer heutzutage auf dem Ku'damm küssen? Stundenlang könnte man sich mit Joachim Richter darüber streiten. Am besten bei Kaffee, Gebäck und einem Gläschen Williams. Jens Rübsam