Phantasie statt Streß

■ In der Kinderakademie Sterntaler werden "defizitäre", vom Alltag überforderte Kinder auf Traumreisen geschickt

Aber Vorrsicht – is' cool, män!“ Der Kindertechnohit dröhnt durch die kleine Turnhalle im fünften Stock der Schöneberger AOK-Zentrale. Zwischen den Gymnastikbällen, Trampolinen und den kreuz und quer über den Hallenboden verstreuten Gymnastikmatten laufen neun Kinder ausgelassen durcheinander – bis Achim Wannicke „Stop eins“ ruft: das vereinbarte Zeichen, sofort stehenzubleiben. „Nicht bewegen“, erinnert der Erziehungswissenschaftler, derweil sich die Neun- bis Zehnjährigen bemühen, das Gleichgewicht zu halten. „Von Luftanhalten habe ich nichts gesagt“, Wannicke blickt augenzwinkernd in die Runde, „ihr sollt euch nur nicht bewegen!“ Zehn Sekunden lang verharren die Kinder regungslos – Zeit genug für die Frage, warum diese Kinder sich hier einmal wöchentlich zusammenfinden.

Es sind ganz normale (im Pädagogendeutsch „normaldefizitäre“) Kinder; Kinder, die den Belastungen eines zeitgenössischen Kinderalltags nicht gewachsen sind; Kinder, deren Verhalten gestört ist, die unter Spannungen im Schulalltag, im Familiären leiden und diese Überforderung meist durch unkanalisierte Aktivität oder auffällige Zurückgezogenheit zu kompensieren suchen. Bereits jedes zweite Kind ist davon betroffen...

Doch da ruft Wannicke schon: „Und weiter!“ Und schon geht es lustig weiter.

Es geht weiter, weil die Eltern bereit sind, die „Phantasiereisen“ von Wannickes Kinderakademie Sterntaler aus eigener Tasche zu bezahlen. Bis Ende 1996 noch übernahmen die Krankenkassen die 190 Mark für die achtmal 50minütigen, gesundheitsfördernden Kurse. Und so konnten die Phantasiereisen bis zum Inkrafttreten von Seehofers Sparpaket sogar flächendeckend an allen Berliner Schulen und Kitas stattfinden. Doch seit dem 1. Januar 97 ist das umstrittene „Beitragsentlastungsgesetz“ in Kraft und damit die Gesundheitsförderung für Kinder aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen gestrichen. Wannicke, Initiator und Direktor der Kinderakademie, findet diese Pauschalentscheidung fatal und kurzsichtig. Das Angebot der Sterntaler sei zweifellos sinnvoller und sogar kostengünstiger, als verhaltensauffällige Kinder beispielsweise mit – weiterhin anstandslos von den Krankenkassen bezahlten – Psychopharmaka ruhigzustellen.

Ruhiger werden die Kinder nämlich auch in der AOK-Turnhalle. Die von Wannicke entwickelte Dramaturgie setzt auf die Phantasie der Kinder. Mal läßt er sie zu Eisblöcken gefrieren oder sich in kleine Pakete zusammenrollen, mal sollen sie nahende Haifische – „iiiiih!!“ – in die Flucht schreien und Rettung – „aaaah!!“ – herbeirufen. Einen Großteil der Stunde verbringen die Kinder mit geschlossenen Augen, tasten und fühlen zu meditativen Klängen aus dem Kassettenrekorder und imaginieren, jedes für sich, was Wannicke ihnen vage vorgibt: Auf einer einsamen Insel seien sie gestrandet, ganz allein. Aber einen Grund, sich zu fürchten, gebe es nicht, auch nicht, als aus dem nahen Urwald ein Tier direkt auf sie zukommt, ein „Krafttier“ nämlich, das sich von den Kindern streicheln läßt.

Der angestaute Streß soll so abgebaut, der auf den Kindern lastende Sozialdruck ausgeglichen werden. Bei den Sterntalerstunden handelt es sich um ein „niedrigschwelliges, integratives Entspannungstraining“, das langfristig (gesundheits-)schädigendes Verhalten der zumeist unter Streßreaktionen wie Konzentrationsmangel, Bauch- und Kopfschmerzen, Zappeligkeit, Aggressivität, Allergien oder Depressionen leidenden Kinder durch sogenannte „Brückenübungen“ in ein „gemäßes Verhalten“ zu überführen sucht. Die gesundheitsbeeinträchtigten Kinder sollen in kritischen Situationen in ihren Kräften gestärkt und befähigt werden, Erfahrungsräume aufzuschließen.

Ziel ist es, die Kinder selbstsicherer und angstfreier zu machen, ihnen ihre persönlichen Qualitäten emotional bewußt zu machen. Das mag abstrakt klingen, simpel, vielleicht weltfremd. Doch letztlich ist das Sterntalertraining viel konkreter. Spielerisch vermittelt es den Kindern nicht nur Strategien, wie sie sich beispielsweise vor der nächsten Klassenarbeit besser konzentrieren können, sondern bietet auch hilfreiche Tips und Tricks, die ihnen die Scham und Scheu nehmen sollen, die erlernten Strategien tatsächlich anzuwenden. Bevor diese Kinder zum ohnehin überlasteten schulpsychologischen Dienst, in Therapie oder sonstwohin geschickt werden, kommen die Sterntaler zu ihnen. Immer noch ist die derzeit von über 50 auf fünf Mitarbeiter zwangsgeschrumpfte Kinderakademie vor Ort, sobald sich mindestens sieben Kinder zusammenfinden und die Finanzierung des Kurses gesichert ist.

Doch die Existenz der Kinderakademie ist gefährdet und damit auch deren bewußt unauffällige, professionelle Hilfe. Was nützen da die vielen positiven Rückmeldungen seitens der Eltern, der Schulen? Was nützt es, daß Professor Hurrelmann vom Sonderforschungsbereich „Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter“ der Uni Bielefeld sich entschieden für die „in dieser Form in Deutschland einzigartige, ganzheitliche Maßnahme der Gesundheitsförderung“ einsetzt? Was nützt es, daß der Bundesgesundheitsminister höchstselbst in einem Brief an den Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages, Dieter Thomae, das 2. GKV-Neuordnungsgesetz zwar als „wirksame Bremse gegen erneute unsinnige und unwirtschaftliche Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsförderung“ zu rechtfertigen versucht, das Angebot der Kinderakademie Sterntaler gleichzeitig ausdrücklich von den genannten Maßnahmen ausnimmt? Kein Wunder, daß Wannicke dies inakzeptabel findet und vehement für ein Nachkorrigieren der Bonner Entscheidungen plädiert.

Derweil wird versucht, die notwendigen Mittel anderweitig zu beschaffen: Caritas, Senatsmittel, Patenschaften für einzelne Schulen, das alles sind alternative Finanzierungsmöglichkeiten, die mal hier, mal dort einen Kurs zustandekommen lassen können. Außerdem rät Wannicke allen am Sterntalertraining interessierten Eltern, sich direkt an ihre Krankenkassen zu wenden. Schließlich bleibt denen trotz der undiffenrenzierten Gesetzesvorgaben noch immer die Möglichkeit, mittels Einzelfallentscheidung die Kosten zu übernehmen. Mit der kinderärztlichen Empfehlung genügt bei manchen Kassen schon ein Anruf. Christoph Schultheis

Kinderakademie Sterntaler, Wittelsbacherstr. 17, 10707 Berlin, Tel.: 885 95 00