■ Deutschland muß akzeptieren, daß es längst eine multikul- turelle Gesellschaft ist. Das weiter zu leugnen, ist gefährlich
: Die kommode Lebenslüge

Tiefgreifende Veränderungen kommen nur selten über Nacht. Meistens gibt es keine „Mauer“, die für alle sichtbar fällt. In der Regel stehen Entscheidungen, vor allem parlamentarische, am Ende einer gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in einer Vielzahl einzelner Ereignisse manifestiert und erst im nachhinein als Prozeß erkennbar wird.

Eine solche parlamentarische Entscheidung steht nun bevor. Bis zur Sommerpause Ende Juni will eine Gruppe innerhalb der Bundestagsfraktion der CDU/CSU eine Entscheidung über die befristete Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft in ihrer Partei erzwingen. Gelingt das nicht, so Peter Altmaier, einer der Sprecher der Gruppe, ist das Projekt für diese Legislaturperiode wohl gestorben. Dann wäre nicht nur ein parlamentarisches Projekt vertagt, sondern eine zentrale gesellschaftliche Auseinandersetzung der letzten 20 Jahre zumindestens vorläufig entschieden.

Seit Mitte der 70er Jahre, als die damalige SPD/FDP-Regierung einen Anwerbestopp für Arbeitsmigranten aus dem Mittelmeerraum verhängte, wird darum gestritten, wie weltoffen, gelassen und letztlich zivilisiert die bundesdeutsche Gesellschaft ist oder sein will. Der Lackmustest für diese Frage ist und bleibt der Umgang mit den Fremden. An der Bereitschaft, Einwanderer aufzunehmen, Einwanderung als selbstverständliches Phänomen globaler Mobilität anzunehmen und damit einhergehend, die Vorstellung eines ethnisch definierten Staates als antiquierte Vorstellung zu den Akten zu legen, entscheidet sich der Charakter der Republik.

Die Antworten auf diese Fragen waren über die Jahre hinweg widersprüchlich. Während in der Asyldebatte über zwei Jahrzehnte die Angst vor den Wirtschaftsflüchtlingen, die uns die Früchte unserer Arbeit stehlen wollen, dominierte, lernte die deutsche Gesellschaft mit ihren Migranten zu leben. Der türkische Nachbar, die kroatische Kollegin, die Kinder ausländischer Herkunft in der Schule wurden zu selbstverständlichen Erscheinungen deutschen Großstadtlebens. Als Ende der 80er Jahre Heiner Geißler in der CDU für die Akzeptanz der multikulturellen Gesellschaft warb und in Frankfurt das erste Amt für multikulturelle Angelegenheiten entstand, schien es nicht mehr weit, bis auch der Gesetzgeber nachvollziehen würde, daß die Bundesrepublik längst zu einem Einwanderungsland geworden war.

Daran änderte sich auch nach dem Fall der Mauer zunächst nichts. Der Gestus mancher Ostdeutscher, die mit dem Anspruch auftraten, „schickt die Türken nach Hause, jetzt kommen wir“, stieß weitgehend auf Kopfschütteln, und als in Hoyerswerda und Rostock fremdenfeindliche Ausschreitungen auch von Normalos beklatscht wurden, überwog das Entsetzen. Das blieb auch so, als der Funke von Rostock auf Mölln und Solingen übergriff. Mit Lichterketten, Trauerbezeugungen und dem Beginn der Diskussion um die Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts machte die Mehrheit in Deutschland klar, daß die Einwanderer für sie ein Teil der Gesellschaft sind. Die gleichzeitige Abschaffung des grundrechtlich garantierten Schutzes politisch Verfolgter wurde deshalb auch als Maßnahme ausgegeben, um den rechten Rattenfängern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zunächst mit Erfolg: Die Anschläge gingen zurück, die Ausländerfrage verschwand aus der öffentlichen Auseinandersetzung, die neue Republik hatte ihre erste schwere Belastungsprobe bestanden.

Seit diesem Sieg der Vernunft geht es bergab. Nicht spektakulär, sondern schleichend und kontinuierlich. Aus Anteilnahme wurde Gleichgültigkeit, aus Gleichgültigkeit mehr und mehr offene, alltägliche Aggression. Längst hat vor allem in Ostdeutschland die Zahl der Angriffe auf Menschen, die fremd aussehen, das Ausmaß von 1992 wieder erreicht. Doch das nimmt kaum noch jemand zur Kenntnis. Viele Migranten fahren einfach nicht mehr dorthin.

Entsprechend dümpelten die parlamentarischen Vorstöße zur Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts, zur Einführung einer doppelten Staatsbürgerschaft und die Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes vor sich hin. Obwohl es auch nach Einschätzung von CDU-Abgeordneten bereits 1993 eine Mehrheit im Bundestag für die Reformen gab, kam diese Mehrheit nie zum Tragen. Warum nicht? Die parlamentarische Geschichte dieser Reformen ist eine Kette von Fehlern und Ungeschicklichkeiten sowohl der SPD wie auch der einsichtigen Teile in FDP und CDU. Letztlich lag es aber wohl immer daran, daß auch die SPD-Führung nie wirklich hinter einer Reform stand, die das Selbstverständnis der Republik verändert hätte. Ob aus Angst oder aus Mangel an eigener Überzeugung, mag dahingestellt sein – jedenfalls hat die SPD-Spitze nie genug Druck gemacht, um eine Reformmehrheit im Bundestag zum Tragen zu bringen und den Stahlhelmflügel in der Union zu isolieren.

Jetzt hat Kanther den Zeitgeist erst recht auf seiner Seite. Die multikulturelle Gesellschaft ist zwar nicht gescheitert, aber sie ist nicht mehr im Trend. Das hat nichts damit zu tun, daß ein Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen eben auf Dauer nicht möglich ist, sondern daß eine Gesellschaft mit dauerhaft fünf Millionen Arbeitslosen einen Sündenbock braucht. So erleben wir zur Zeit weniger einen Durchmarsch der Stammtische als die Präsentation der Migranten als Sündenböcke durch die bessere Gesellschaft. Nicht die rechtsradikalen Schreier werden mehr, sondern Leute wie Voscherau, Zwickel und die Trendsetter des Spiegel. Maßgebliche Kräfte innerhalb der SPD, der Gewerkschaften und der Medien haben in der Auseinandersetzung um eine tolerante, weltoffene Gesellschaft die Seiten gewechselt.

Der Versuch der jungen CDU- Abgeordneten, trotzdem eine Entscheidung zu erzwingen und zumindestens für die zweite und dritte Generation der Einwanderer eine Perspektive zu eröffnen, dürfte deshalb für lange Zeit der letzte Anlauf in Deutschland sein.

Auch wenn von den ursprünglichen Vorstellungen nicht mehr viel übriggeblieben ist und die Reform mehr und mehr symbolischen Charakter trägt – das Symbol ist wichtig. Gerade jetzt könnte ein Gruppenantrag über die Fraktionsgrenzen hinweg ein Zeichen setzen, daß ein großer Teil der Gesellschaft die Integration weiterhin will. Kommt dieses Signal nicht, könnte leicht der angebliche Kampf der Kulturen herbeigeredet werden. Jürgen Gottschlich