■ Schnittplatz
: Tacheles im „Spiegel“

Sie waren wieder in Berlin, die Leute vom Spiegel. Eigentlich sind ja immer ein paar von ihnen hier, aber wenn die Schatten großer Ereignisse bis nach Hamburg fallen, müssen Spezialisten ran. Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft ist so ein Ereignis (türkische Jugendgangs in U-Bahnhöfen!), die Loveparade natürlich und selbst der 1. Mai. Wenn der schon den Autonomen nicht mehr heilig ist, soll zumindest für die Spiegel-Reporter Großkampftag sein: Gleich zwölf von ihnen marschierten mit geschultertem Laptop durch die „Straßen von Berlin“ und stießen auf S/M-Sex in der Disco und Heinrich Lummer an der Krummen Lanke.

Der Spiegel zeigt Berlin-Kompetenz, indem er die Insassen seines Hauptstadtbüros möglichst wenig zu Wort kommen läßt. Der Blick von außen ist schließlich oberstes Gebot, auch diese Woche. Unter dem Titel „Ruine im Biersumpf“ nimmt sich das neue Hauptstadtblatt der Kultur-Ruine Tacheles an. Hatte doch schon im vergangenen November eine Spiegel-Praktikantin dringend um dessen Räumung gebeten und von „harmonisch parzellierten Büros für Diplomaten“ geschwärmt.

Da kann man den Groll des Spiegel-Redakteurs nachvollziehen, als er bei seinem letzten Berlinbesuch sehen mußte, daß sich statt Diplomaten immer noch türkische Kinder und Künstler auf dem Gelände tummeln. Ein großer Artikel mußte her, ein semantischer Ritt durch Berlins Off-Kultur, als hätte Hobby-Jockey Stefan Aust das Metaphernpferdchen persönlich bestiegen: Vom „morbiden Disneyland“ ist da die Rede oder auch von einem „gestrandeten Ozeandampfer“, auf dem nicht nur über alle Maßen Bier getrunken, ja, selbst vor Koks nicht zurückgeschreckt wird. Wo ist das „Vorübergehende, das Fluktuierende“, fragt sich der erboste Spiegel-Reporter – als hätte er das Kunsthaus einst mitbesetzt und dessen Statut persönlich verfaßt.

Für eine schnelle Räumung müßte das jetzt eigentlich reichen. Und dann endlich können aus dem Tacheles harmonisch parzellierte Spiegel-Büros werden – damit man noch näher dran ist am Geschehen. Wenn das überhaupt noch geht. Oliver Gehrs