Hänsel und Gretel im Regenwald

■ „Sommergäste“ von Maxim Gorki in der Inszenierung von Elke Lang am Deutschen Schauspielhaus Hamburg

Die Schlußworte des Schriftstellers umreißen den Spielraum der „Sommergäste“ in Gorkis Stück: „Es ist so bedeutungslos, es ist alles so gleichgültig...“ Elke Lang tritt mit ihrer Inszenierung nicht nur gegen die vermeintliche Beliebigkeit von Erfahrungen an, sondern auch gegen die Hoffnungen, die der politische Aufbruch zu versprechen schien, sowohl bei der Uraufführung 1904 als auch in der berühmten Inszenierung Peter Steins an der Berliner Schaubühne 1974.

Gorkis Paare und Passanten versammeln sich auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses in der Halle eines Sägewerks, durch deren Rückwand man hinaus in den Wald schaut, der im zweiten Teil zum Schauplatz vieler Begegnungen wird. Zunächst aber soll Theater gespielt werden, auf einem zur Bühne verkleideten Rollwagen mit roten Vorhängen, doch alle Bemühungen des Regisseurs sind vergeblich, die diversen Ehepaare ziehen es vor, sich zu streiten oder zu begrapschen. Diejenigen, die nicht Teil eines Paares sind, stören die Zweisamkeit oder werden in die schwelenden Konflikte hineingezogen: eine Partyszenerie, deren Oberflächlichkeit nur von ihrem Voyeurismus überboten wird. Immer, wenn jemand die Durchschnittslautstärke übertönt, halten alle anderen inne und lauschen, reflexhaft und begierig, um sich sogleich wieder betriebsam anderen kleinen Konflikten zuzuwenden: Gefangene ihrer Affekte und auf die Scheinbewegung ihrer Nörgel-, Neid- oder Selbstmitleidsausbrüche angewiesen.

Der Weg ist frei, und alle Türen sind offen

Die Arztfrau und vielfache Mutter Olga (Sabine Wegner) beklagt ihre Erschöpfung geradezu lustvoll, und wenn sie die Rechtsanwaltsgattin Warja mit Unterstellungen konfrontiert und wenig später mit dem eigenen Ehemann auf dem Waldboden herumtobt, wird besonders deutlich, daß diese Rituale längst lebensnotwendig und keineswegs Ausdruck gesellschaftlicher Zwänge sind. Die Eifersucht des Ingenieurs Suslow (Markus Boysen) auf seine Frau Olga, den Star des Theaterspiels, der seine Affekte durch fortwährende Verführungsversuche mal mehr, mal weniger erfolgreich auflädt, erfüllt die gleiche Funktion. Der Weg in den Wald ist frei, alle Türen offen, und Elke Lang versorgt Gorkis Personal mit mehr Freiheit, als es dem Autor selbst möglich war.

Doch gerade deshalb gewinnt die Inszenierung nicht die Intensität, die im Aufeinanderprallen von Aufbruchssehnsucht und Erstarrung angelegt ist. Nachdem fast alle die Theaterprobe verlassen und sich mit Regenschirmen oder Umhängen in den Wald aufgemacht haben, treten die junge Frau des korpulent-zynischen Rechtsanwalts und ihr Bruder, der den Possenreißer für die Runde spielt, ins Zentrum. Ihre Geschichten unterscheiden sich von denen der anderen insofern, als sie das Leben, das sie führen, immer weniger ertragen können, doch dieser Blickwinkel enttäuschter Hoffnung nimmt der Inszenierung die Schärfe und Genauigkeit, die sie in der Darstellung der einzelnen Konfliktfelder entwickelte. Judith Engel als Warja, die ihren Mann schließlich verläßt, kann ihre Behauptung, sie sei durch die anderen ausgelöscht worden, nicht glaubwürdig machen; und auch Max Hopp als ihr Bruder, der alle Hoffnung auf die Beziehung zur viel älteren Ärztin Marja Lwowna (Marlen Diekhoff) setzt, bleibt blaß.

Parcours der Paare zwischen Kiefern

Allzu voraussehbar bewegen sich die „Sommergäste“ auf das Ende ihres letzten gemeinsamen Picknicks im Wald zu – die einen werden gehen, die anderen bleiben, doch ihre Kräfte sind längst erschöpft, die Spannung aus gegenseitiger Anziehung oder Abneigung ist schon vor dem Schlußausbruch verbraucht. Ein Grund dafür ist die allzu schematische Abfolge von Begegnungen im Walde, die zum beliebigen Bilderbogen werden. Die Regisseurin und ihr Ensemble demonstrieren zwar die Unfähigkeit, an die Oberfläche dringende Gefühle auszuhalten, im einzelnen mit großer Genauigkeit, doch der Parcours der Paare zwischen den Kiefernstämmen wird brüchig, weil die Distanz zwischen der satten Leere der 90er Jahre und dem politischen Unbehagen der Sommergäste Maxim Gorkis am Vorabend revolutionärer Umwälzungen allzugroß ist.

Der Anspruch des politischen Schriftstellers liegt wie Mehltau über den Befunden der Regisseurin und verhindert, daß seine oft schönen und präzisen Sätze ihre Sprengkraft entfalten können, wie etwa: „Es ist Wahnsinn, dem Leben die schützende Hülle der Illusion abzureißen.“ Wer den dichterischen Wegbereitern des realen Sozialismus heute mit zuviel Respekt begegnet, läuft Gefahr, sich von ihren Wegzeichen in die Irre leblosen Theaters führen zu lassen. Peter Stein und Botho Strauß, damals sein Dramaturg, hatten es da 1974 noch leichter. Lore Kleinert

„Die Sommergäste“. Von Maxim Gorki. Regie: Elke Lang. Bühne: Raimund Bauer. Deutsches Schauspielhaus Hamburg