Es ist zu kalt für Schuschinka

Das Wichtigste ist, einfach da zu sein – und jede Woche wiederzukommen: Über 30 ehrenamtliche HelferInnen besuchen und begleiten einsame Menschen in Frankfurter Alten- und Pflegeheimen  ■ Von Heide Platen

Horst B. sitzt im Aufenthaltsraum auf einem Stuhl, vor seinem Bauch ist eine Holzplatte eingehängt. Darauf liegen die Plastikbausteine, die er ineinandersteckt, den grünen in den roten in den orangenen und wieder von vorn. Da will er sitzen bleiben, den Anorak nicht anziehen, den grauen Cordhut nicht aufsetzen. Er will nicht spazieren und wehrt sich noch an der Tür. Statt hindurchzugehen, schließt er sie blitzschnell von innen, macht auf dem Absatz kehrt und steuert wieder seinen Stuhl an.

Marianne von Jasienicki hakt ihn unter, steuert ihn von hinten bis zum Fahrstuhl, dann rechts um die Ecke aus dem Haus, in den Garten hinter dem katholischen Alten- und Pflegeheim St. Teresa in Frankfurt-Hausen. „Papa, Papa, ich muß doch zur Schule!“ sagt Horst B. zu ihr. Horst B. ist 78 Jahre alt, und die Alzheimer- Krankheit hat sein Gedächtnis und Orientierungsvermögen bis auf Rudimente zerstört. „Wenn ich ,Papa‘ bin, dann ist er gut drauf“, sagt Jasienicki. Horst B. schlurft mit vorgeneigtem Kopf, schiebt die Füße vorsichtig über den Boden. Er sieht jede Stufe, jeden verkanteten Pflasterstein und achtet immer darauf, nicht vom Weg abzukommen.

Marianne von Jasienicki besucht ihn einmal in der Woche. Sie ist ehrenamtliche Sterbebegleiterin. Jung sieht die 60jährige ehemalige Programmiererin aus, mit Sinn für das Schöne, Blumen, Musik, Literatur und für modisch Ausgefallenes. Sie möchte die Sinne von Horst B. ansprechen, zeigt ihm den Flieder: „Der wird bald blühen.“ Horst B. bemüht sich um Aufmerksamkeit: „Kann schon sein“, sagt er. „Die Kirschen sind schon verblüht.“ „Ist doch nicht so schlimm“, sagt er. Hinter dem Heim spielen Kinder. Horst B. zeigt einen Moment lang großes Interesse: „Was machen die denn da?“ Sie rennen lärmend durcheinander. Er versucht leise, sie zu zählen und kommt nicht weiter als bis drei. Das macht ihm so zu schaffen, daß er – „Papa, Papa!“ – schnell fortwill.

Vorsichtig müsse man mit ihm umgehen, hatte Marianne von Jasienicki gewarnt. Widerspruch vertrage er nicht. Und Schnelligkeit auch nicht. Er könne rabiat werden. Bei ihr nicht mehr, sie kennt er, aber anfangs, vor einem Jahr, hat er sie einmal geohrfeigt. Horst B. hat Verwandte, mehrere erwachsene Kinder. Doch die einen wohnen weit weg, die anderen kommen selten: „Es ist sehr schwer, zu sehen, wie ein Angehöriger verfällt.“

Horst B. setzt sich im Garten auf einen Plastikstuhl, der ihm zu niedrig ist, dessen eines Bein wackelt. „Ich kann mir was denken, Papa“, sagt er. Und denkt: „Wenn ich mein Bein abgesägt habe, habe ich auch keins mehr.“ Da habe er, versucht Jasienicki, „einen guten Witz gemacht“. B.: „Ich habe keine Witze, Witze, Witze.“ Und dann will er weinen: „Ich mag nicht mehr! Ich habe zu Hause so viel gehabt! Ich will heimgehen!“ Sie streichelt seine Hand, er hält sie fest: „Ich kann nicht mehr. Ich bin es leid. Jetzt bin ich allein.“

Später, um zwei Häuserecken, nimmt er seine Umgebung noch einmal wahr und erinnert sich: „Und dann haben sie mich in das Heim gebracht.“ Jasienicki versucht immer wieder, Blickkontakt herzustellen und das Gespräch wieder aufzunehmen. Im Zimmer will Horst B. nur noch seine Bauklötzchen zurück und sagt dazu energisch: „Herr im Haus!“ Jasienicki verabschiedet sich lange: „Bis nächste Woche.“

Marianne von Jasienicki ist, wie viele Ehrenamtliche, Sterbebegleiterin geworden, nachdem ihr Vater starb. Daß sie in dessen Todesstunde nicht bei ihm war, machte ihr Schuldgefühle. Sie wollte mehr über das Sterben wissen, las viel und besuchte ein Seminar des Frankfurter Institutes für Sozialforschung. Dessen „Initiative Sterbebegleitung“ ist aus einer Vorlesungsreihe der Universität des Dritten Lebensalters entstanden und hatte, entgegen der Erwartung der Universitätsleitung, einen unerwarteten Zulauf. Inzwischen sind 32 HelferInnen im Einsatz. Sie verstehen sich, sagt Projektleiter Frank Pastorek, „nicht als Sterbe-, sondern als Lebensbegleiter“.

Regelmäßig besuchen sie alte, kranke Menschen in drei Frankfurter Alten- und Pflegeheimen, „die sonst niemanden mehr haben“. Lebensbegleitung bis zum Tode sei, weiß er, „nicht nur Altruismus“, sondern ein Prozeß des Gebens und Nehmens: „Die lernen auch etwas für sich selbst.“ Zum Beispiel sich einzugestehen, daß sie die Antworten auf „die letzten Fragen“ nicht haben, nicht zu missionieren und sich zurückzunehmen: „Der Sterbende ist immer der Schwächere.“

Der erste Todesfall, den Marianne von Jasienicki als ehrenamtliche Lebensbegleiterin miterlebte, war für sie ein Schock. Sie hatte die Frau erst vier Wochen lang besucht, kam in deren Zimmer: „Und es war leer!“ Ein anderer „Fall“ starb, als sie im Urlaub war. Sie hat gelernt, das zu akzeptieren. Pastorek: „Es gibt eine Zeit, wo der Sterbende mit sich allein sein will.“ Das müsse begriffen werden und sei oft nur an Gesten zu erkennen, „wenn wer immer wegguckt, sich zur Wand dreht. Das nagt am Selbstwertgefühl der Pflegenden. Wegschicken aber braucht auch Vertrauen.“ Pflegende müßten lernen, zu unterscheiden, ob ein immer wieder geäußerte Todeswunsch ein „hilfloser Schrei“ sei aus Angst vor einem einsamen Sterben oder das bewußte Abschließen mit dem Leben. Viele Sterbende suchten im Pflegenden noch lange einen Verbündeten, der helfe, die Todesahnung zu verleugnen.

Sigrid Loetto kam ebenfalls nach mehreren Todesfällen in der Familie zur Sterbegleitung: „Einsam sterben, das ist nicht schön.“ Zuerst interessierte sie sich für die Trauerhilfe bei Hinterbliebenen. Die ehemalige Grundschullehrerin mit sechs Enkeln ist 63 Jahre alt. Seit anderthalb Jahren besucht sie regelmäßig die 93jährige Helene B., altersvergeßlich und mit schwer gestörtem Zeitgefühl. Die will auch nicht spazierengehen. Es sei zu kalt für Schuschinka, sagt Helene B. Ihr „Liebling“ liegt, fest eingewickelt in eine Wolldecke, auf dem Sofa: Den großen Plüschteddy darf sie im Haus nicht mit in die Gemeinschaftsräume nehmen. Daß sie ihn fürsorglich füttert, hat Aggressionen bei MitbewohnerInnen ausgelöst.

Schuschinka ist für Helene B. Liebesobjekt und Ersatzfamilie und auch ein Teil ihrer Persönlichkeit, ihrer Bedürfnisse. Wenn es Schuschinka kalt ist, dann ist es auch Helene B. kalt. Oder hungrig oder froh, traurig, müde. Sie sinniert viel, blickt aus dem Fenster: „Das ist alles, was uns geblieben ist auf Erden, die paar Bäume.“ Sie hängt an Sigrid Loetto, nennt sie ihre Nichte. Früher ist sie ihr nach dem Abschied nachgelaufen und wollte mitgenommen werden. Im Gespräch versucht Sigrid Loetto, Erinnerungen zu aktivieren und die Realität in das kleine Zimmer zu holen. Helene B. ist Christin und erinnert sich besonders gern an ihre Wallfahrten, „das Schönste in meinem Leben“. Aber das ist vorbei: „Ich will schon nichts mehr sehen als noch den Sarg.“ Und: „Ich bin auf den Tod vorbereitet.“ Ihre Absenzen sind vorübergehend. Manchmal ist sie ganz von dieser Welt und weiß von den Drogenproblemen Jugendlicher und davon, daß es in der Stadt „nicht mehr so schön ist wie früher“. Und erinnert sich an die große Familie, die vielen Geschwister, an die Ziege, „die hat uns Milch gebracht“. Aber alle, die sie kannte, sind tot: „Wie schrecklich, daß ich alleine bin.“

„Gott sei Dank“ kommt Ingrid Loetto, hält ihre Hand, ist da. Einmal, wünscht sich Helene B., in ihrem Leben möchte sie noch in die Innenstadt, in die Katharinenkirche, wo früher „die vielen Leute gesungen und gebetet haben. Das war so schön.“ Sie weiß, daß ihr Besuch wieder gehen muß. Sie schickt ihn sogar ganz höflich, aber energisch fort: „Du mußt nach Hause. Die warten doch, daß du kochst.“ Und dann klammert sie sich an Schuschinka und wiegt den Stoffbären auf den Knien.

Inzwischen beendet Marianne von Jasienicki ihre wöchentliche Vorlesestunde. Die ist sonst gut besucht. Heute nicht, nur zwei Frauen haben bis zum Ende ausgehalten. Die eine findet die orientalische Legende entschieden zu „schaurig mit Mord und Totschlag“. Die andere murmelt und grummelt: „So ein Quatsch.“ Sie ist blind, sitzt im Rollstuhl und klopft ungehalten mit ihrem Stock. Ihre unübersehbare Langeweile vertreibt sie sich mit intensivem Kramen in der letzten Privatheit, ihrer großen Handtasche. Aus der holt sie eine Banane, schält sie, nimmt zum Essen das Gebiß aus dem Mund und läßt es in der Tasche verschwinden. „Gefällt Ihnen die Geschichte nicht?“ fragt Jasienicki und wird nicht mal einer Antwort gewürdigt. Und das nächste Mal? „Ist mir doch wurscht!“

Marianne von Jasienicki hat zum Ende des langen Tages noch einen Besuch vor sich, den bei Frau J., die nach zwei Schlaganfällen im Erdgeschoß im winzigen Arztzimmer allein untergebracht ist. Sie schreit dumpf und gepeinigt. Radiomusik soll die Geräusche übertönen und gleichzeitig die Einsamkeit fernhalten. Die Stimme von Frau J. ist vom Brüllen rauh geworden, nur noch ein heiseres Flüstern. „Ich bin dumm!“ sagt sie. Und: „Ich bin schuld.“ „Schande!“ Jasiniecki weiß wenig über Frau J., nur daß sie alleinstehend ist und fromm. Sie versucht vor allem, die Qual der Gefühle zu lindern, redet vom verzeihenden Gott, hält die Hand von Frau J. und Blickkontakt. „Hier“, sagt sie beim Hinausgehen, „kommt man an seine eigenen Grenzen.“