Die Liebe als Wille und Vorstellung

■ Unbekannte, bücherreiche Insel: Lesung mit Steinunn Sigurdardottir und Sigurdur Palsson zum Abschluß der Islandwoche

Der Isländer und die Isländerin, die nicht hauptberuflich in der Elfen- und Trollforschung beschäftigt sind, schreiben Romane. Na ja, fast. Jedenfalls gibt es in Island prozentual gesehen mehr Dichter als überall sonst in der Welt. Die Statistik sagt, daß jeder zehnte Isländer in seinem Leben wenigstens ein Buch schreibt. Und es erscheinen hier relativ betrachtet auch die meisten Bücher pro Jahr, was sich dann in absoluten Zahlen allerdings nicht mehr ganz so beeindruckend ausnimmt. Immerhin: 600 bis 700 Neuerscheinungen pro Jahr mit Gesamtauflagen bis zu einer Million bei nur 260.000 Einwohnern, das ist keine Kleinigkeit.

Das Literarische Colloquium (LCB) hat es nun mit einer „Woche der Isländischen Literatur“ unternommen, die in Deutschland wenig wahrgenommene Literatur vom Rande des Kontinents ein bißchen bekannter zu machen. Eine Literatur, die in ihrem Herkunftsland einen ganz außergewöhnlich hohen Stellenwert besitzt. Es wird tatsächlich äußerst viel gelesen in Island, und die jungen Literaten des Landes haben hier im öffentlichen Leben den Rang absoluter Popstars.

Arthur B. Bollason, Journalist und Reisebuchschreiber aus Reykjavik, erklärte dieses Phänomen am Eröffnungsabend der Literaturreihe damit, daß die nationale Identität des Inselstaates sich zu einem ganz großen Teil über die Sprache bilde – eine Sprache, die dem Nicht-Isländer zwar angenehm singsangend, dafür aber auch fremd anmutet und ihn oft schon bei der Aussprache von Vor- und Familiennamen scheitern läßt. Und diese Eigenart der Sprache habe die Literatur und die Geschichte der Literatur zu der zentralen Identifikationsgröße der isländischen Nation gemacht, so Bollason.

Auf deutsch liegen nur sehr wenige Werke isländischer AutorInnen vor. Die meisten der in dieser Woche vorgetragenen Texte wurden eigens für die Lesungen im LCB übersetzt. Auch von Sigurdur Pálsson, dem Schriftsteller, Übersetzer, Filmregisseur und Dozenten an der Universität Reykjavik, der heute abend zusammen mit Steinunn Sigurdardóttir die Islandreihe mit einer Lesung abschließen wird, gibt es noch kein Buch auf deutsch zu kaufen.

Das gibt es dafür von Sigurdardóttir. Es heißt „Der Zeitdieb“ und ist eine Art Liebesroman, weil die Liebe, die sogenannte erfüllte Liebe, darin nur wenig Raum einnimmt. Der große Rest ist die Beschreibung einer Obsession. Besessen ist Alda, Lehrerin aus Reykjavik, von der glücklichen Zeit, die sie zusammen mit ihrem „Glückstroll“, einem verheirateten Geschichtslehrer, mit 37 Jahren sechs Monate lang erlebt hat.

Die Zeit danach wird präzise, schonungslos und doch nie ohne Selbstironie als unaufhaltsamer Auflösungsprozeß beschrieben, als eine immer mehr anwachsende Hingabe an die Vergangenheit, an einen unerfüllbaren Traum, an die Erinnerung. Die Liebe als Wille und Vorstellung, die Alda, die Selbstbewußte, schließlich ganz verschlingt. „Ich hätte gern dieses eine Leben, das mir zugeteilt wurde, ohne diese fixe Idee gelebt“, sagt Alda einmal, und in diesem Ton unsentimentaler Verzweiflung ist ein großer Teil des Romans geschrieben.

Und Island? Island kommt auch vor in Sigurdardóttirs Roman: Als „unterbevölkert und gottverlassen“ wird es von Alda geschimpft, und auch Bollasons emphatisches Bekenntnis zur gesicherten Sprachgemeinschft Island klingt hier wesentlich gedämpfter: „Ich weiß vielleicht nicht so richtig, was ich bin“, sagt Alda, „aber isländisch – absurd. So ist es eben, wenn man in einem Unland geboren ist.“ Volker Weidermann

Doppellesung heute, 20 Uhr, Literarisches Colloquium, Am Sandwerder 5

Steinunn Sigurdardóttirs Buch „Der Zeitdieb“ ist 1997 im Ammann-Verlag Zürich erschienen und kostet 38 DM