Triumph der Implosionen

Vom Schaubühnen-Illusionisten zum Volksbühnen-Neurotiker: Porträt des Schauspielers Bernhard Schütz zur Kresnik-Premiere heute abend  ■ Von Kolja Mensing

Kurz vor acht, das Café Tati am Rosa-Luxemburg-Platz leert sich: Die Theatervögel, Krawattenmenschen und jungen Laptop-Journalisten stürzen den letzten Rest Espresso hinunter, flattern, schreiten und hetzen hinüber in die Volksbühne. Es ist der zweite Tag des Theatertreffens, gleich beginnt Corneilles „Triumph der Illusionen“. Ein Stück über das Theater und über die Theater-Angst: vor dem Moment, in dem die Illusionen allzu sehr auftrumpfen, Bühne und Wirklichkeit sich vermischen.

Ortstermin mit dem 38jährigen Volksbühnen-Schauspieler Bernhard Schütz: Theater-Angst. Wenn man Schütz in einer Castorf- oder Schlingensief-Inszenierung sieht, wünscht man sich manchmal den netten Zauberer aus Corneilles Stück herbei, der die Zuschauer erlöst, kurz bevor der Vorhang fällt: Es sei doch alles nur Spiel gewesen. Weil die bohrende Nervigkeit, die kühle Aggressivität und die penetrante Häßlichkeit der Schütz-Figuren verdammt aufdringlich ist. Und einen auch auf dem Heimweg nicht allein läßt. Pünktlich um acht kommt Schütz auf einem sympathisch-schrottreifen Fahrrad angeradelt. Der Thrill ist vorbei: Wie er da so sitzt und einen mit seinen kleinen, wasserblauen Augen anguckt, mag man sich nicht gruseln. Dieser Schauspieler ist schüchtern, spricht zwischen Pausen und langem Zögern schnell, aber nicht hektisch.

Er erzählt von der Arbeit mit Schlingensief – „Rocky Dutschke“ im letzten Jahr und „Schlacht um Europa“ in diesem. Schlingensiefs Eindringen in die Intimsphäre seiner Zuschauer interessiert ihn – auch wenn er Gefahren sieht: „Es kann dabei schnell zu einem Punkt kommen, wo es nicht mehr weitergehen kann, an dem alle Grenzen gefallen sind.“ Wenn Schütz auf der Bühne steht, fällt auf jeden Fall die Grenze zwischen Schauspieler und Publikum. So wie in „Rocky Dutschke“, als Schütz inmitten des 68er-Chaos eine Kollegin brutal fesselte und trat. In einer Vorstellung stand eine Zuschauerin auf und begann, ihn als „Macho- Schwein“ zu beschimpfen. Für einen Moment hielt selbst das abgeklärte Volksbühnen-Publikum den Atem an: Theater-Angst.

Ist das der ideale Kontakt zwischen Schauspieler und Publikum? „Manchmal reagiert ein Zuschauer ganz offen, geht eine ernsthafte Beziehung mit einem Schauspieler ein. Dann wird er ganz weich, und eigentlich müßte man den Raum um ihn schließen“, erklärt Schütz. Die Authentizität wird hart erarbeitet: Es dauert, bis dieser Punkt der Wahrheit gefunden wird, bis Bernhard Schütz' Kunstfiguren den perfekten Dilettantismus besitzen, an dem sich die Theaterbesucher reiben können.

Eine Form des Spielens, die für Schütz eng mit dem Namen Castorf verbunden ist. Zum ersten Mal begegnete er dem Regisseur in Basel: „Sein Theater war eine Rieseneröffnung.“ Castorf – im Sommer 1989 noch ein echter „DDR- Regisseur“ – inszenierte „Ajas“, und Schütz spielte Odysseus. In Castorfs Volksbühnen-Inszenierung von Sorokins „Hochzeitsreise“ (1995) trieben es Regisseur und Schauspieler auf den Höhepunkt: „Zuerst werden die Leute eigentlich nur angeschimpft, provoziert. Zum Schluß gelingt es mir dann aber, sie wirklich etwas zu fragen, sie wirklich zu berühren – und das ist viel furchtbarer als die bloße Provokation.“ Aber auch riskant. Nicht nur der Zuschauer kann in solchen Momenten viel von sich preisgeben, auch der Schauspieler: „Das Publikum ist ja nicht doof. Manchmal sind sie gar nicht geschockt, sondern kontern unheimlich schnell.“

Schütz redet viel über den Zuschauer. Vielleicht weil er selbst ein später Zuschauer ist, einer, der mit 19 Jahren zum ersten Mal im Theater war. Das war 1968 in Leverkusen: „Der Bettelstudent“. Als Schütz nach einem abgebrochenen Psychologie-Studium und einigen Off-Theater-Versuchen 1981 die Aufnahmeprüfung an der Hochschule der Künste bestand, gab es für den Theaterspätling einiges zu entdecken: Die damals ziemlich angesagte Schaubühne, dazu die Freie Volksbühne – „Zadek fand ich richtig toll“.

Kurze Zeit später durfte er in diesen Häusern mitmachen. Nach einem kurzen Engagement in Nürnberg spielte Schütz in Inszenierungen von Peter Stein, Luc Bondy und Hans Neuenfels: „An der Schaubühne konnte ich Bruno Ganz und Udo Samel den ganzen Abend zugucken, über fünfzig, siebzig Vorstellungen hinweg. Das war einfach spannend.“ Auf Dauer allerdings nicht spannend genug. Schütz ging 1987 nach Basel, später nach Hamburg und ist seit zwei Jahren an der Volksbühne engagiert. Ein weiter Weg, vom Schaubühnen-Illusionisten zum Castorf- Neurotiker.

Neben Castorf hat der Choreograph Johann Kresnik ihn auf diesen Stationen begleitet: In Basel spielte Schütz den todkranken Jüngling „Mars“ von Fritz Zorn (1993), in Hamburg den Egomanen „Gründgens“ (1996). Figuren, die unter einem gewaltigen inneren Druck stehen – wie der sühnegeile Günther von Nebeldorf in der „Hochzeitsreise“ und der dumpfe Aktionist in „Rocky Dutschke“. Angstmenschen, die implodieren, sich nur in kurzen, oft brutalen Momenten öffnen.

Wie Antonin Artaud? Im Prater hat heute abend Kresniks Choreographie „Antonin Nalpas“ Premiere. Ein Pas de deux um Kunst und Schizophrenie mit Bernhard Schütz und dem Tänzer Daniel Chait. Tanztheater – und Schütz ist für den Text zuständig: „Ich mache nur den Kontrast zu Daniel. Seine Technik und Virtuosität hält mich allerdings und lädt meine eigene Ungeformtheit emotional auf.“ Diesen Schauspieler noch mehr aufladen? Warum nicht. Man wird wieder etwas ängstlich dabei sein – lieber in der dritten Reihe als in der zweiten.

„Antonin Nalpas“ von Johann Kresnik, heute abend, 21 Uhr, Prater, Kastanienallee 7–9