■ Vorschlag: Die Nudel des Erzählers: Raymond Federman im Literaturhaus
Vorschlag
Die Nudel des Erzählers: Raymond Federman im Literaturhaus
Es war höchste Zeit. Sechs Jahre haben wir gewartet auf diesen neuen Roman von Raymond Federman. Beim Warten hatten wir beinahe geglaubt, es müsse zwangsläufig so sein, daß unser Literaturbetrieb derzeit in Pathos oder Realismus versackt. Doch Federman, der große Spieler aus den USA, kommt nach Berlin und holt uns wieder auf den Boden seiner Tatsachen.
Tatsache ist, daß Literatur nicht nach logischen Gesetzen funktioniert. Fürs Erzählen hat sie nicht mehr Wert hat als eine Schachtel Nudeln. Aber nichts gegen Nudeln. Denn um die Nudel dreht sich so einiges in Federmans Roman. Sie kommt sogar viel früher vor als die titelgebende Tante Rachel selbst. Die ist tief eingewickelt in andere Geschichten, und auf dem Weg zu ihr verstrickt sich der Erzähler immer wieder im eigenen Garn. Schweift ab, muß pinkeln gehen und bittet uns dann, auf ihn zu warten. Manchmal hat er auch Mitleid und schickt uns weg, um frische Luft zu schnappen. Klingt alles postmodern, sagen Sie? Den Einwand hat Federman erwartet und seinem Helden einen knalligen Showdown auf den Leib geschrieben. Ein herrlicher Moment, in dem der Held seinem pickeligen Lektor die Leviten lesen darf: über tote Begriffe und den Betrieb überhaupt.
Doch das passiert erst am Schluß des Romans. Vorher geht es um „Die Zeit der Nudeln“, das Opus magnum des Erzählers. Ein Vorwand höchstwahrscheinlich, mit dem er seinen Zuhörer (uns? Federmans mäkelndes Alter ego?) an den Cafétisch lockt. Um dann aus der Subjektiven draufloszureden – eine neue Version seines Lebens zu zeigen.
Raymond Federman schreibt immer über sein Leben. Oder besser: schreibt sich (ins) Leben, denn der 1928 geborene Autor entging 1942 nur zufällig seiner Deportation. Eltern und Schwestern hatten kein Glück, sie wurden in Auschwitz ermordet. Seither erhebt er Zufall, Chaos und Improvisation zum ästhetischen Prinzip. Alles sprudelt so packend aus ihm heraus, daß sein spielerisches Werk nie in langweiliger art pour art erstarrt. – Doch zurück zur Tante Rachel. Wie Federmans übrige Familie taucht sie zunächst nur als Wetterleuchten auf, verspricht, irgendwann auch vorzukommen. Doch bis dahin macht der Erzähler Bocksprünge, wie er sagt, in andere Geschichten, in scharfe Sexgeschichten, schöne Liebesgeschichten, traurige Emigrantengeschichten. In starke Charlie-Parker-Jazz-Geschichten. Und schlimme Geschichten. Wie die seiner Eltern und Schwestern, die zu Seife und Lampenschirmen wurden. Oder von der jüdischen Verwandtschaft, die aus Opportunismus Beihilfe zum Mord leistet.
So ein Zusammenschnitt klingt manchmal fast zynisch. Doch das liegt einfach an der Sache selbst und nicht am Stil der Erzählung. Was den Stil angeht, den hört man förmlich. Ein Grund mehr, das Temperamentbündel Federmann heute live zu sehen. Und zu hören: als Autor und als Vokalist in einer Jazz-Session mit Art de Fakt. Gaby Hartel
Heute, 20 Uhr im Literaturhaus Fasanenstraße. Im Anschluß an die Lesung Jazz mit der Gruppe Art de Fakt.
Nachschlag
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