Die Austern haben keine Wahl

Die Austernzüchter in der Bucht von Bourgneuf wehren sich gegen den Bau eines Atomkraftwerks in ihrer Region. Die Parteien und ihr müder Wahlkampf interessiert sie dabei wenig  ■ Aus Saint Nazaire Dorothea Hahn

Ausgerechnet der schweigsame Hugues Guittot sprach die Sache als erster an. „Was passiert mit unseren Muscheln, wenn Le Carnet gebaut wird?“ fragte er bei einer Vollversammlung der Austernzüchter. Das war vor ein paar Monaten, als noch niemand an vorgezogene Neuwahlen und Stimmenfang dachte. Seither machen sich die 990 Männer und 10 Frauen, die ihre Kleinbetriebe in der weiten Bucht von Bourgneuf südlich der Loire-Mündung haben, Sorgen. Ihre „Austern Loire-Atlantique“, die mindestens drei Jahre lang auf Metallgestellen im Wattenmeer reifen, bevor die Feinschmecker in ganz Europa sie roh in den Mund schlürfen, sind das empfindlichste Glied in der Nahrungskette.

Der Grund ihrer Sorge, Le Carnet, ist das neueste Projekt der Atomindustrie. Nicht nur der französischen, sondern auch der deutschen. Auf der einstigen Sandinsel im Feuchtgebiet auf der Südseite der Loire-Mündung wollen Framatome und Siemens gemeinsam ihr erstes AKW des 21. Jahrhunderts bauen. Es soll aus zwei Reaktoren à 1.400 Megawatt bestehen, nicht vor dem Jahr 2010, wenn die erste französische AKW- Generation verschrottet ist, in Betrieb gehen, „absolut sicher“ sein, wie Nuklearphysiker in Paris wissen wollen und als Empfehlung für den Export der Atomtechnologie nach Osteuropa und Asien dienen.

Viel mehr ist über das Vorhaben nicht zu erfahren. Der staatliche französische Elektrizitätskonzern EDF, Patron über stolze 58 Reaktoren im Land und inzwischen 54 Hektar Land in Le Carnet, spielt Katz und Maus. „Ein AKW? Ein deutsch-französisches sogar? Das interessiert mich“, sagt der Konzernsprecher am Telefon. Die Anwohner auf beiden Seiten der Loire werden ähnlich abgespeist. Als EDF vor ein paar Wochen mit der Aufschüttung des Geländes begann, die inzwischen von einem Verwaltungsgericht gestoppt wurde, erklärte der Konzern, er wolle das Gelände für eine „spätere Verwendung“ vorbereiten. Ob darauf ein konventionelles oder ein atomares oder überhaupt kein Kraftwerk entstehe, sei völlig offen. Bloß in den Scharmützeln vor Ort, wo schon Bauwagen umgekippt und EDF-Gebäude besetzt wurden, entfleucht EDF-Vertretern gelegentlich ein Versprecher, der klarmacht, daß es tatsächlich um ein AKW geht. Der Präsident des Regionalrats und der des Generalrats, die beide seit Jahren öffentlich nach einem AKW verlangen, machen ohnehin keinen Hehl aus ihrer Absicht.

Die Bucht von Bourgneuf mit der selten gewordenen Wasserqualität „A“ liegt eine halbe Autostunde südwestlich von dem Bauplatz. „Die Austernzüchter der Loire-Atlantique öffnen Ihnen Ihre Domaine“, steht auf blauweißen Plakaten rechts und links der kleinen Straße, die in das flache Land hinter den Deichen führt. Zwischen den weiß gestrichenen niedrigen Häusern bauen Gemüsebauern nach ganz Europa exportierten Feldsalat an. Dutzende, von Schleusen unterbrochene, Kanäle leiten das Wasser aus den Poldern in das Wattenmeer, wo bei Ebbe die Austernzüchter arbeiten. Bei klarer Sicht sind ihre geometrisch angeordneten Gestelle auf den viele hundert Meter breiten und tiefen Austernfarmen vom Deich aus zu erkennen.

Austernzüchter Hugues Guittot hatte seine Frage gestellt, weil er einfach wissen wollte, was seiner Produktion von jährlich zwischen 20 und 40 Tonnen Austern droht. Von AKWs hatte er bis vor ein paar Monaten so gut wie keine Ahnung. Lediglich bei einem Urlaub im südfranzösischen Rhône-Tal, mit seiner hohen AKW-Dichte, hatte er mal ein Exemplar davon gesehen. Was Hugues Guittot kennt, sind seine Austern, die ununterbrochen Wasser aufnehmen und wieder abgeben, nachdem sie das Plankton herausgefiltert haben, und die auf jede Temperaturveränderung reagieren.

Die Austernzüchter machen sich Sorgen um das Feuchtgebiet hinter den Deichen, das die EDF trockenlegen will. „Es filtert das Wasser, bevor es erst nach vielen Tagen ins Wattenmeer fließt“, erklärt Züchter Alain Prillet. Und sie befürchten auch Schlimmes, wenn das vom AKW erwärmte Loire- Wasser vom Wind in ihre Bucht getrieben werden sollte.

Austernzüchter sind Individualisten. Im Wattenmeer bearbeitet jeder seine eigene kleine Parzelle – auch wenn der Gezeitenplan alle gleichzeitig bei Ebbe nach draußen lenkt. An Land betreibt jeder Austernzüchter seine eigene Werkstatt, in der die reifen Muscheln vom Gestell gelöst, geputzt und nach Gewicht getrennt werden. Und auch die Wasserbecken zum Nachreifen sind privat betrieben. Nicht einmal bei der Vermarktung haben sie Kooperativen. Die meisten Austernzüchter fahren selbst mit dem Kühlwagen über Land, beliefern Geschäfte und verkaufen ihre Produkte persönlich auf dem Markt.

Als Hugues Guittot seine Atomfrage stellte, war den Austernzüchtern schnell klar, daß sie nur mit einer gemeinsamen Aktion etwas gegen das AKW ausrichten könnten. Aber aktiv wurden sie deswegen noch lange nicht. Manche machten geltend, daß sie selbst eine Menge Strom für ihre Geräte zum Pumpen, Wiegen und Putzen benutzten und deswegen Interesse an dessen Produktion hätten. Andere wandten gleich ein, daß man eh nichts gegen ein derartiges Projekt ausrichten könne.

Ihr Sprecher Jean-Yves Billon, der früh von dem potentiellen Schaden für seine Branche überzeugt war, belehrte die Kollegen eines Besseren. „Frankreich produziert längst mehr Strom, als es verbraucht“, weiß er. Und: „Die Elektrogeräte verbrauchen immer weniger Energie, warum sollen wir da ein neues AKW bauen.“ Schließlich wagte er auch die ketzerische Frage, warum die EDF selbst in seiner windigen und sonnenreichen Region nichts für die Entwicklung von alternativen Energiequellen getan habe. Als seltsam empfindet Billon auch, daß „Europa und Paris“ erst vor wenigen Jahren viel Geld für die Modernisierung der kleinen Austernzuchtbetriebe in die Bucht von Bourgneuf geschickt haben und heute planen, ein AKW hinter den Deich zu setzen. Der erfahrene Umweltschützer Dominique Potier, den die Austernzüchter zu Hilfe riefen, steuerte weitere Einzelheiten über die drohenden Veränderungen durch ein AKW bei.

Die Argumente überzeugten die Branche. „Objektiv sind die Austernzüchter alle dagegen“, sagt Billon heute. Sein werbeträchtiger Spruch: „Wir Austernzüchter machen reine Bioprodukte“, kommt an. „Im Gegensatz zu den Landwirten haben wir gar keine andere Alternative“, erklärt Billon, „wir können nicht das Meer düngen, um die Produktion zu vergrößern, oder die Temperaturen durch Treibhäuser verändern.“

In der Bucht von Bourgneuf ist die Austernzucht noch jung. Sie begann erst 1945, als sich mehrere Züchter aus dem Südwesten Frankreichs dort niederließen. Doch die alteingesessenen Fischer- und Bauernfamilien interessierten sich schnell für das neue Gewerbe, das, abgesehen von der großen Austernkrise wegen einer Krankheit in den 70er Jahren, einen gewissen Wohlstand garantiert. Wer heute in der Branche arbeitet, hat den Betrieb meist vom Vater oder Onkel übernommen und denkt gar nicht daran, nach einem anderen Broterwerb Ausschau zu halten. Zumal die Region südlich von der Loire-Mündung wenig Alternativen zu der Arbeit in Meer oder Landwirtschaft bietet. Was der Bau einer Atomanlage für diesen Bereich bedeutet, wissen die Austernfischer aus den Fernsehberichten über La Hague. „Die Landwirte und Muschelzüchter aus der Umgebung der Wiederaufbereitungsanlage werden ihre Produkte nicht mehr los, weil die Kunden Angst vor Verstrahlung haben“, weiß Austernzüchterin Helene Pillet.

Der Wahlkampf hat, trotz der einmütigen Gegnerschaft von Austernzüchtern, Gemüsebauern, Hotelbetreibern und Loire-Fischern, bislang wenig zugunsten der AKW-Gegner arrangiert. Zumindest nicht auf der Südseite der Flußmündung, wo es keine Industrie und über 18 Prozent Arbeitslosigkeit gibt und eine traditionell konservative Wählerschaft.

Auf der Nordseite der Loire, mit ihren Anlagen in Schiffbau, Raffinerie und Industriehafen, ist das ganz anders. In den vier vergangenen Wochen ging dort eine regelrechte Bekennerwelle gegen das AKW durch die Kampagne. Die Vertreter sämtlicher großer Parteien, auch die der neogaullistischen RPR und der KPF, deren Pariser Zentralen für das Projekt sind, sahen sich genötigt, dagegenzuhalten. Dagegen sind natürlich auch die drei Öko-Politiker, die gegeneinander und auf aussichtslosem Posten um den Einzug ins Parlament kämpfen.

Die Austernzüchter setzen kaum Hoffnungen in die Pariser Parteien. „Der Sozialist Lionel Jospin will das Projekt stoppen“, sagt einer. „Das wollte die konservative Umweltministerin auch“, wendet ein anderer ein. Aber aufgeben wollen sie trotzdem nicht. Sie setzen nicht auf Wahlkampf, sondern auf die Dauer in der Debatte. Ihr stärkstes Argument ist dabei nicht die Umwelt, sondern die Arbeit. „Wir beschäftigen auch Angestellte in unseren Betrieben – dauerhaft und nicht nur während der Bauzeit eines AKWs“, sagt ihr Sprecher Billon.