Kiezvagabunden sind wir

Apokalypse für den Hausgebrauch: Mit gemarterten Geigen und Lyrics aus der Rebellenkiste spielen die Inchtabokatables auf zum letzten Tanz. Das Mittelalter ist nie weit. Und Walther von der Vogelweide hat auch mitgetextet  ■ Von Gunnar Lützow

Der Prenzlauer Berg spiegelt noch immer den Riß zwischen alten, neuen und sonstigen Bundesländern. Während sich inzwischen an fast jeder Straßenecke statt der üblichen Berliner Stampe ein Café mit Abendkarte befindet, gibt es in den Seitenstraßen Läden, in denen sich seit zehn Jahren nichts verändert hat und selbst alteingesessene Neuberliner westdeutscher Provenienz nach einer Sekunde sich irgendwie deplaziert vorkommen. Und unweit von Konnopkes legendärer Currybude läßt sich nach Jahrhunderten gastronomischen Fortschritts wieder speisen wie im Mittelalter.

Aus diesem Kiez kommen sie also, die Inchtabokatables, deren Name auf australisch angeblich „Hochstapler“ bedeutet und ihnen auf der anderen Seite der Erde in einer Kneipe wegen mangelnder Spieltechnik verliehen worden sein soll. „Moment mal“, wirft da der nach einer Woche Promotour schon leicht angeschlagene Leadsänger B. Breuler lachend ein, „vor allem war ja die Geschichte mit Australien schon ziemlich hochgestapelt.“ Gesichert allerdings ist, daß es vor dem aktuellen Album bereits drei Longplayer gab, die zwei Dinge gemeinsam hatten: Statt einer Überdosis E-Gitarre gab es Bass, Cello und Violine, und auf dem Cover tauchte in verschiedenen Variationen ein geigender Tod auf, der – mal als Baby, mal auf einem Atompilz sitzend – verkündete: Das Ende ist nah, und wir spielen auf zum letzten Tanz, du darfst auch „mittelalterlich inspirierte Folkpunks“ zu uns sagen. Schließlich hat zum Beispiel olle Justin Sullivan von – those were the days! – New Model Army „Ultra“ produziert und Walther von der Vogelweide mitgetextet.

Doch das will jetzt mit „Quiet“, dem neuen „Fast-Konzeptalbum“ (K&P Music/BMG), Vergangenheit sein, und zumindest das Artwork deutet ein Andocken an das zwischen Bau- und Schaustelle changierende Berlin des Jahres 1997 an. Vier kernige Jungs in geschmackvollem Beige, die nicht mehr nach Tacheles und noch nicht nach Jil Sander aussehen, schauen am Betrachter vorbei, wenden mit dem Rücken zu einer sich perspektivisch verengenden Wand ihren Blick einer ungemütlich überdimensionalen Zukunft zu. Weiter vorne der Leadsänger im schmutzig-schönen Arbeitsoverall, der mit einem zum Kopfhörer umfunktionierten Gehörschutz die zukünftigen Töne erahnt. Interpretationen gehen allerdings auf eigene Gefahr!

„Wir denken über so was echt nicht nach, weißte – wir sagen: Paß uff, det jefällt uns jetzt. Ist uns doch schnurz, wat det Marketing dazu sagt – ist schließlich unsere Platte. Wir haben uns da hingestellt, uns mit Schlämmkreide ansprenkeln lassen, und hinterher sah et jut aus. Ich betrachte so was doch nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten, ebensowenig die Musik und die Lyrics. Wenn et mir jefällt, is et jut, und fertich.“

Fragt sich natürlich, wenn die Inhalte schon beliebig sein sollen, was ein explizit politischer Song wie „Keep in Mind“, der wohl gegen einen Mangel an Mitgefühl im allgemeinen und insbesondere gegen Hitlers billige Vollstrecker angeschrieben ist, auf der Platte macht. „Ja, das ist mir so rausgerutscht, dafür entschuldige ich mich. Nee, Quatsch – war nur ein Scherz. Das ist aber auch nur einer persönlichen Begegnung mit dieser Thematik geschuldet. Ein sehr persönliches, intensives Erlebnis, da mußte ich einfach einen Song drüber machen. Wir gehen aus vom Individuum, unser Ding ist es nicht, mit erhobenem Zeigefinger irgendeine Doktrin zu verkünden.“

Mit dieser selbstgebauten Mischung aus folkiger Gemütlichkeit, mehr oder minder gesundem Menschenverstand und der Zurückweisung eines wie auch immer gearteten Überbaus sprechen die Inchtabokatables, die zu Ostzeiten als wandernde Musikanten über die Dörfer zogen und im Rahmen der berühmten Mittelalterspektakel mitten im realexistierenden Sozialismus für kurze Momente rudimentärer Anarchie sorgten, anscheinend die Schnittmenge der heimlichen Rebellen aller Länder, Altersgruppen und Szenen an.

Alexandra Schreier, Organisatorin des in Hamburg ansässigen Fanclubs, berichtet, daß sich die wachsende Fangemeinde zu gleichen Teilen aus Ost und West und Mann und Frau zusammensetzt, und auch Drummer Kokolorus Mitnichten erzählt: „Bei den Livekonzerten ist das Publikum total gemischt. Erst die Punker, dann die Heavy-Metal-Typen – und als wir mit Deine Lakaien gespielt haben, kamen dann noch Grufties dazu. Es gibt Gegenden, da kommt nach dem Kozert einer, haut dir ins Kreuz, und sagt: Alter, jetzt gehen wir einen trinken. Einen Abend später kommt einer ganz ruhig an und fragt, ob er sich mal mit dir unterhalten kann.“ Und obwohl sich die Band erst 1991 gegründet hat, zieht sie ihr Outsider-Selbstverständnis noch immer aus der halbdissidenten Vergangenheit – was natürlich mit Tausenden zahlenden Besuchern und Charteinstieg auf Platz 62 schon nah an der nahezu klassischen Rock 'n' Roll- Selbstverkennung liegt.

Und so, wie sich die Fanschar eher organisch vermehrt als dem kurzfristig kalkulierten Hype auf den Leim geht, hat sich trotz entspannterer Herangehensweise an den Produktionsprozeß der große Bruch auf „Quiet“ dann doch nicht radikal vollzogen. Als außenstehender Nicht-Inchtomane läßt sich sogar konstatieren, daß alle typischen Ingredienzen vorhanden sind und mehr oder minder gekonnt arrangiert wurden. Nachdenkliche bis gemarterte Geigen besänftigen den inneren Vagabunden, der, statt an der Werkbank zu stehen oder im Großraumbüro zu sitzen, viel lieber durchs schottische Hochland zum „Mountain Man“ trampen würde, und der markige Bass B. Breulers erinnert dich nach Feierabend an die Zeit, als du, fern vom Planeten Berlin, „Haus der Lüge“ von den Einstürzenden Neubauten hörtest, während die Leute aus der Parallelklasse noch immer und nicht schon wieder die Pet Shop Boys gut fanden.

Bleiben da die sparsam, aber effektiv eingesetzten Noise-Passagen, das immer mal wieder mit mächtigem Uffta-Beat durchgreifende Schlagzeug und die eher grobschlächtige Form von Poesie, die da in größtenteils holprigem Englisch vom Baum des Lebens, blauen Tagen und der heulenden See zwischen Himmel und Hölle erzählt.

Das alles zusammengenommen ergibt eine letzte romantische Vorstellung all dessen, was in Berlin mal aktuell war – und verglichen mit dem kräftig ziehenden Brachialsound der Lokalmatadoren von Rammstein ist es sogar eine vergleichsweise harmlose. Richtig spannend wird es jedoch erst werden, wenn sich die in technoid-spacigem Dunkelgrün gehaltene Rückseite des Booklets als richtungsweisend herausstellen sollte und der Roland Einzug hält.

Nach Zukunftsplänen befragt, hält man sich bisher bedeckt, freut sich auf das Leben on the road und gibt sich ganz pragmatisch: „Zukunft? Na, die Zukunft machen wir uns doch selber. Jetzt ist erst mal Clubtour angesagt, im Sommer spielen wir auf Festivals, und im Herbst kommt die große Tour zur Platte.“ Das mittelalterliche Restaurant heißt, nur nebenbei bemerkt, Selig.