„Diese Leute sind nicht allein“

Frauenhandel: Warum die Russin Irina Petrowa auch nach vier Monaten in einem stickigen Apartment nicht gegen ihren Zuhälter aussagen wird  ■ Aus Hamburg Constanze von Bullion

Sie entscheidet in einer Sekunde. Einer verdammt langen Sekunde. In der sie den Kugelschreiber noch mal zwischen den Fingern dreht. Einen Blick auf die Polizisten wirft, auf die erwartungsvolle Dolmetscherin und das Protokoll. Alles steht da. Was man ihr versprochen hat. Wer sie nach Hamburg gekarrt hat. Welchen Männern sie Geld geben, welche sie bedienen mußte. Namen hat man aus ihr rausgepreßt. Beschreibungen von Freiern und Zuhältern. Hat Erinnerungen wachgerufen an grobe Hände und gierige Mäuler, an das Gezeter ums Geld – und an die Drohungen. Da legt Irina Petrowa* den Stift aus der Hand. Die Zeugenaussage gegen ihre Zuhälter unterschreibt die Russin nicht.

Dabei hörte sich alles so vielversprechend an. Einen „Aktionsplan gegen Frauenhandel“ hat der Ministerrat der EU kürzlich verabschiedet. Von „Opferschutz“ ist da die Rede. Von „medizinischer, sozialer und juristischer“ Hilfe für Ost-Frauen, die in West-Puffs geschleust werden. Duldung wird allen zugesichert, die gegen die Zuhälter aussagen. Migrantinnen ohne Visum sollen erst nach den Gerichtsverfahren abgeschoben werden. Die EU-Minister werten ihre Resolution als „Durchbruch“. Für das Landeskriminalamt Hamburg ist sie „kalter Kaffee“.

Der Kaffee wird in der Tat öfters mal kalt, wenn Polizisten versuchen, aus Polinnen oder Russinen Informationen über die Szene herauszufragen. „Keineswegs zufrieden“ ist Manfred Quedzuweit mit seinen Erfolgen. Rund um St. Pauli, weiß der Kriminaloberrat, arbeiten immer mehr Osteurpäerinnen. Etwa 2.000 tragen hier ihre Haut zu Markte, in der Bundesrepublik sollen es 500.000 sein.

Daß es nicht vorwärtsgeht bei den Ermittlungen, liegt auch am Klima: am Mißtrauen der Frauen gegenüber der Polizei. Und daran, daß die Beamten wiederum auf deren Aussagen wenig geben. „Wenn es beim Verhör um Hintergründe geht, wird oft massiv gelogen. Das ist zwar menschlich verständlich, aber wenig hilfreich“, heißt es beim LKA Hamburg.

Irina Petrowa weiß, daß ihr Wort nichts zählt. Sie kennt die abschätzigen Blicke der Männer, die sie vom platinblonden Scheitel bis zum Absatz mustern, bevor sie sie mit Fragen belästigen. Mit Fragen, die man besser nicht beantwortet. Irina Petrowa hat gelernt, daß auf Fremde kein Verlaß ist und nicht auf Freunde. Hat verstanden, ihre Haut zu verstecken unter hochgeschlossenen T-Shirts. Ihre Gefühle zu verstecken hinter einem hellwachen Blick. Einfach alles zu verstecken, was kostbar und persönlich ist. Wer weiß schon, was sie wirklich wollen, die Helferinnen von „Amnesty for Women“, bei denen sie jetzt am Kaffetisch sitzt. Wer weiß, was passiert, wenn all die Wohlmeinenden um die Ecke sind und ihre eigenen Lebensgesetze wieder gelten.

17 Jahre war sie, als in Rußland die Welt unterging. Die Sowjetunion machte Schluß, die Arbeitgeber ihrer Eltern auch. Ihre Mutter hatte Stoffe entworfen, der Vater Kühlwagen durch Europa gesteuert. Seit sie arbeitslos sind, können sie ihren Kindern nichts bieten als ein Leben in einer Stadt, wo die Langeweile regiert und der Wodka. Wo junge Frauen heiraten, wenn sie Glück haben, und putzen gehen, wenn das Glück hält. Irina wollte nicht putzen. Sie wollte Maschinen bauen. Doch die Lehre hat sie abgebrochen: „Wenn man da noch Arbeit findet, gibt's 350 Dollar im Monat. Da wollte ich weg mit meiner Freundin.“

Von einer „Bar“ in Exjugoslawien war die Rede in der Anzeige. „Wir sollten tanzen, hat meine Freundin gesagt, das habe ich geglaubt.“ Getanzt hat sie dann. Erst mit Top. Dann ohne. Dann ohne alles. Je weniger sie am Leib hatte, desto mehr kam in die Kasse, am Ende 50 Dollar am Abend – ohne Sex. „Man hat mich zu nichts gezwungen“, sagt Irina. Und nennt das „keine schlechte Erfahrung“.

Daß es ein Unterschied ist, ob man sich für Geld anglotzen läßt oder begrapschen, daß es weniger übel ist, für ein paar Dollar mit einem ins Bett zu gehen, als vergewaltigt zu werden, das sind die Kriterien, nach denen die 24jährige heute die Jobs in der Rotlichtszene beurteilt. Nach vier Monaten in Jugoslawien war es genug. Sie ist heimgefahren. Ein Auto haben ihre Eltern gekauft, das Nötigste zum Leben und ein paar Möbel. Als das Geld verbraucht war, hat Irina wieder einen Steckbrief in der Zeitung gefunden: „Erfahrene Tänzerinnen für internationale Auftritte gesucht. Nicht kleiner als 1,70 Meter, gute Figur.“ Sie hat sich feingemacht. „Der Mann“, erinnert sie sich, „hatte sehr gutes Benehmen, einen eleganten Anzug und eine Krawatte. Irgendwie solide.“ 10.000 Dollar hat er Irina geboten. Die muß lachen, wenn sie an das Geschwätz denkt.

Kaum vorstellbar, daß eine intelligente Frau mit Irinas Lebenserfahrung reinfällt auf solche Versprechungen. Sei sie auch nicht, meint sie, zumindest nicht, was das Geld anging. Denn erst mal mußte sie selbst 1.000 Mark für die gefälschten Papiere abdrücken. Die hatte der solide Herr in einer Woche organisiert. Als sie in das Auto stieg und der Fahrer Gas gab, da hat sie „nichts besonderes empfunden“. Nur gehofft, „daß mir nichts passiert“.

„Viele hoffen, glauben, wollen glauben und belügen sich selbst“, sagt Iskra Koch, „weil es anders gar nicht zu ertragen ist.“ Die 48jährige Bulgarin betreut osteuropäische Prostituierte in der Beratungsstelle von Amnesty for Women in Hamburg. „Viele Frauen haben keine Ahnung, in welche Abhängigkeiten sie sich begeben“, weiß Iskra Koch. „Sie kommen als Au-pairs oder als Putzfrauen. Manche landen auf dem Heiratsmarkt, andere gehen wissentlich ins Bordell. Nicht alle sind Opfer. Aber alle brauchen Hilfe.“

Bei Amnesty for Women spricht man nicht gern von Prostitutierten, lieber von „Sex-Arbeiterinnen“. Von „Migrantinnen in der deutschen Sexindustrie“, die „ihre Heimat verlassen, weil sie auf ein besseres Leben hoffen“. Das klingt nach einem schönen Wort für eine unschöne Angelegenheit. Nur die Legalisierung des Sex-Gewerbes, glaubt Iskra Koch, könnte die illegalen Osteuropäerinnen aus der Abhängigkeit von Zuhältern befreien. Die schlagen immer noch ungestraft zu: „Wer rebelliert, wird den Behörden gemeldet, vergewaltigt oder brutal verprügelt. Einer Frau haben sie glühende Zigaretten auf der Haut ausgedrückt, einer anderen die Zähne ausgeschlagen.“

Irina Petrowa könnte die Liste der Demütigungen fortsetzen. Doch das verbietet der Stolz. „Mich vergewaltigt keiner, diesen Gefallen tue ich denen nicht“, sagt sie und zieht die Arme enger um den Bauch. „Aber seelische Vergewaltigung ist das sowieso. Weil man innerlich nicht dazu bereit ist.“ In ein Apartment hat man sie gebracht. In eines dieser muffigen Zimmer, wo der immer gleiche Spiegel an der Wand hängt und die immer gleiche Kaffemaschine in der Ecke steht. Wo es einen Anrufbeantworter gibt, auf dem eine deutsche Stimme unverständliche Dinge säuselt und wo Frauen in immer gleichen Laken ihre Freier empfangen, ihre Zuhälter bedienen und selbst schlafen müssen.

Die Sache mit der Abrechnung hat ihr ein Russe erklärt. 100 Mark für zehn Minuten. Wenn der Kunde länger braucht, wird Strafe bezahlt. Von der Frau. Die gibt 80 Prozent ihres Lohns ihren Bewachern, der Rest geht für Essen, Bettwäsche, Kleider und Medikamente drauf. Und für Kondome, wenn die Kunden die akzeptieren. „Arschlöcher“, hat Irina gedacht, als sie heulend auf der Bettkante zurückblieb. Wenig später war der erste Freier am Telefon. Sie hat sich die neue Wäsche angezogen, die durchsichtigen Blusen und kneifenden Mieder. Hat ihm die Tür aufgemacht und runtergeschluckt, wofür sie heute nur noch zwei Worte kennt: „Angst. Und Ekel.“

Weglaufen? Zur Polizei gehen? Verbündete suchen? Keine Chance, die Überwachung ist nahezu perfekt. „Immer öfter werden Frauen selbst Zuhälterinnen“, sagt Iskra Koch. Wo die einschlägigen Apartments Wand an Wand liegen, werde belauert, gepetzt und verraten. Daß die Polinnen die Russinnen nicht mögen und Ukrainerinnen die Rumäninnen verachten, wüßten die Zuhälter zu schätzen: „Man wird verrückt, wenn man sieht, wie die Frauen um die Gunst dieser Männer buhlen. ,Die anderen läßt er nur arbeiten, aber mich liebt er‘, sagen sie. Dabei sind diese Typen nicht die Spucke vor ihren Füßen wert.“

Irina Petrowa hat nicht von Liebe geträumt. Sie wollte weg. „Die Tür war nicht abgesperrt“, sagt sie, „das war auch gar nicht nötig. Wo hätte ich denn hin sollen?“ Draußen waren die Luden und ihre Drohungen: „Wenn du deine Schulden nicht abbezahlst, passiert dir was.“ Und da war die Polizei. Aber auf der Wache aufkreuzen, ohne Paß und Aufenthaltsgenehmigung? Keine verlockende Aussicht. Denn daß die Ermittler im Milieu sich Gefälligkeiten immer öfter mit Dienstleistungen von Prostituierten vergelten lassen, ist in der Szene bekannt.

In Hamburg steht derzeit ein Polizeibeamter vor dem Kadi, weil er sich bei der Fahndung im Rotlichtbezirk von Bulgarinnen verwöhnen ließ. In Erfurt mußte der Chef des Landeskriminalamtes abtreten, weil seine Leute in den Puffs ein- und ausgingen. Und in Frankfurt (Oder) wurde der Chef des Dezernats für Organisierte Kriminalität angeklagt, weil er den Aufstieg von Brandenburgs Bordellkönig Peter Ruhlmann gedeckt haben soll. Der ließ ihm dafür Tips über Frauenhändler zukommen – und Russinnen zum persönlichen Gebrauch.

Irina Petrowa ist nicht zur Polizei gegangen. Die Polizei kam zu ihr. 12 Stunden dauerte das Verhör. Immer wieder hat man sie in die Zelle gesteckt und herausgeholt. Doch im Wechselbad von Komplimenten und Warnungen ist sie cool geblieben. Als alles vorbei war, hat sie ihre Aussage nicht unterschrieben. „Angenommen, es gibt irgendwann einen Prozeß“, sagt sie nur, „dann sind diese Leute nicht allein. Sie haben Freunde bei mir zu Hause, die rufen sie einmal an. Und dann wird meine Familie bedroht.“

Der vielgerühmte Opferschutz funktioniert nicht. Er scheitert an korrupten Polizisten in Deutschland wie in Osteuropa. An Gesetzen, die Migrantinnen in die Illegalität treiben und ihren Zuhältern ausliefern. Er scheitert aber auch an Frauen, die sich nicht durch eine Aussage vor Gericht erneut in Gefahr bringen wollen. Irina Petrowa lebt seit zwei Wochen im Frauenhaus. Sie wartet nicht auf den Prozeß, nur noch auf ihre Papiere. Nach vier Monaten Deutschland wird sie zurückkehren in ein Land, wo sie alles wieder einholt. Die Not, die Langeweile – und die Erinnerung. „Sex-Arbeiterin“ nennt sie sich nicht. Wie dann? „Es gibt kein Wort. Ich will es nicht einmal denken.“

*Name von der Red. geändert