Arabesk aus Frankfurt

Lokale Musikstile werden heute weltweit produziert. Musikethnologen müssen von geographischen Kategorien abrücken und vielschichtiger forschen  ■ Von Veit Erlmann

Am Ende des 20. Jahrhunderts steht die Musikethnologie vor einer nie dagewesenen Themenfülle und Methodenvielfalt, gleichzeitig in Deutschland jedoch kurz vor dem Ableben als akademische Disziplin. Zum Teil beachtliche Erfolge der überwiegend ausländischen Forschung werden heute in Deutschland ignoriert. Kernstreitpunkt ist dabei die Frage, in welchem Zusammenhang Musik mit einem wie auch immer definierten kulturellen Kontext zu sehen ist. Vor allem auf den Themenfeldern Identität, Medien, Lokalität versus Globalität sowie der Diskursivität von Musik besteht großer Nachholbedarf, will die deutsche Musikethnologie den Anschluß an den internationalen Diskussionsstand nicht verlieren.

Wandelndes Verständnis von Identität

Die vermutlich folgenschwerste Veränderung, die der Kulturbegriff des 19. Jahrhunderts innerhalb der neueren Ethnologie und Musikethnologie erfuhr, betraf den Begriff der Identität. Herrschte bis dahin die Vorstellung einer weitgehenden Übereinstimmung von sozialer Organisation und individuellem Bewußtsein vor, so entstand unter dem Einfluß konstruktivistischer Theorien die Idee, daß kollektive und individuelle Identität Resultat diskursiver Prozesse sind.

Mit diesem neuen Begriff von Identität ging auch eine Verkleinerung des Realitätsausschnitts ethnographischer Beschreibung einher. So hat sich der Schwerpunkt ethnologischer Forschung von großräumigen interkulturellen Vergleichen vollends in Richtung Mikrostrukturen, Subkulturen und Minoritäten verlagert.

Selbst im Bereich der musikalischen Strukturen ist eine Bevorzugung von einzelnen Stücken gegenüber großangelegten Vergleichen zu beobachten – eine paradoxe Annäherung des postmodernen Verständnisses von Musik als Text an den musikhistorischen Werkbegriff dergestalt, daß hier ein (musikalischer) Text nicht auf einen weiterern (kulturellen) Text verweist, sondern in klassischer Manier nur aus sich selbst und der in ihm enthaltenen Bedeutung lebt.

Einer der Realitätsausschnitte, dem Ethnologen und Musikethnologen seit den 80er Jahren besondere Aufmerksamkeit entgegenbrachten, ist das weltweit zu beobachtende Wiedererstarken nationalistischer und ethnischer Bewegungen.

Sozialwissenschaftler sind sich heute weitgehend darin einig, daß nach einer Phase, in der es den Anschein hatte, als würde die fortschreitende Modernisierung der Gesellschaft alte Identitätsmuster und kollektive Verbundsysteme überflüssig machen, allenthalben Assoziationsformen entstanden sind, die sich mehr oder minder explizit auf von alters her gegebene kollektive Einheiten berufen. Daß diese in der Regel aber eher Konstrukte sind denn historische Realität, hat im Falle des neuzeitlichen Nationalstaates zum erstenmal Benedict Anderson in seinem vielbeachteten Buch „Die Erfindung der Nation“ (1983, dt. 1996) herausgearbeitet.

Ein wesentlicher Bestandteil dieses wiederauflebenden Kollektivgefühls ist auch das Verhältnis zur eigenen Tradition. Insbesondere die Vergleichende Musikwissenschaft als Vorläuferin des Musikethnologie hatte aufgrund der Erblast des Historismus und ihrer früheren universalgeschichtlichen, evolutionistischen Ambitionen ein wenig reflektiertes Verhältnis zur Geschichte.

Auch der gegen die Kulturanthroposophie und den funktionalistischen Strukturalismus oft erhobene Vorwurf, ahistorisch zu sein, trifft insofern zu, als die neuere Musikethnologie in der Tat geschichtlichen Wandel, wenn überhaupt, so in der Regel nur als objektiven Verlauf, nicht aber als einen Bewußtseinsprozeß denken konnte. Den Standpunkt, daß Vergangenheit und Tradition, ebenso wie Nationen, das Resultat von Erfindung und Einbildung sein können, machte sich die Musikforschung erst seit Erscheinen des äußerst einflußreichen Sammelbandes „The invention of tradition“ (1983) von Eric Hobsbawm und Terence Ranger zu eigen.

Geflecht von Machtbeziehungen

Identität setzt immer auch einen Gegenpol, eine Form von Alterität voraus. Daß beide indes nicht ontologisch vorgegeben, sondern Teil eines Geflechts von Machtbeziehungen und Interessen sind, verdankt die ethnologische und kulturwissenschaftliche Diskussion vor allem der bahnbrechenden These von Edward Saids vom Orientalismus als Schlüsseltropus von Herrschaft.

Das Problem des Orientalismus ebenso wie des Kolonialismus, dem er ideologischen Ausdruck verlieh, bestand Said zufolge weniger in der Tatsache, den Blick auf den wahren Orient versperrt zu haben. Vielmehr ist Orientalismus die grundlegende Denkstruktur für die „moderne politisch-intellektuelle Kultur“ und hat als solche weniger mit dem Orient selbst zu tun denn mit „unserer“ eigenen Welt. Orientalismus ist die Absicht, eine offenkundig andersartige (oder neuartige) Welt zu verstehen, mitunter zu kontrollieren, zu manipulieren und sogar sich einzuverleiben.

Die bei weitem wichtigsten Themenfelder, auf denen die Konstruktion von Alterität – dem Gegenpol von Identität – musikologisch relevant ist, sind die Subkulturen der westlichen Informationsgesellschaften und, zumindest in der Attraktivität als Forschungsgegenstand teilweise mit diesen sich überkreuzend, die Geschlechterverhältnisse.

Angeregt von den bahnbrechenden Arbeiten von Susan McClary und anderen feministischen Musikforscherinnen, sind in jüngster Zeit einige ethnographische Studien entstanden, die sich von früheren Arbeiten über Musik, Sexualität und Geschlechterrollen in einem wesentlichen Punkt unterscheiden. Geschlechtliche Identität wird hier nicht mehr als biologische Konstante gesehen, die sich etwa in musikalischen Aufführungsrollen und einer reichen Symbolik widerspiegelt, sondern als Voraussetzung und Ergebnis sozialer Praxis.

Musik ist ein Diskurs, der in eine Übereinkunft von Praxis und Interpretation eingebettet ist. Er ist nur als soziale Kommunikationsform existent, wenn er in bestimmten Kontexten Bedeutung erlangt.

Medien machen Musikstile weltweit bekannt

Daß von allen Faktoren, die zur Veränderung des modernen Kulturbegriffs beigetragen haben, die Entwicklung und weltweite Verbreitung der Massenmedien der bei weitem wichtigste ist, dürfte unstrittig sein. Vor allem die elektronischen Medien haben an dieser Entwicklung einen entscheidenden Anteil, erschütterten sie doch vielerorts mit nie zuvor gekannter Intensität die althergebrachte Deckungsgleichheit von geographischem Ort und sozialer Erfahrung und machten ehemals lokal verankerte Musikstile weltweit verfügbar.

Dennoch zögert die kulturologische Musikforschung, den durch die Medien bedingten tiefgreifenden Veränderungen in den Wahrnehmungen, Erfahrungen und Identitäten großer Teile der Menschheit, insbesondere in den Ländern der Dritten Welt, nachzuspüren. Von einer Reihe verdienstvoller Pionierleistungen wie Krister Malms und Roger Willis' „Big sounds from small people“ (1984) und Peter Manuels „Cassette culture“ (1993) einmal abgesehen, sind größere Monographien über dieses Thema bislang nicht erschienen. Allerdings sind die theoretischen und methodologischen Schwierigkeiten bei der Erforschung der zunehmenden massenmedialen Durchdringung von Kultur auch beträchtlich. Bereits seit den siebziger Jahren ist die Konstruktion „subkultureller“ Identitäten durch den Medienkonsum in den Ländern des industriellen Westens eines der Hauptthemen der Popularmusikforschung, und die Versuchung ist groß, viele der in diesem Bereich entwickelten Thesen auf die Situation in Ländern der Dritten Welt zu übertragen. Umgekehrt neigen aber viele Autoren auch zu einer übereilten Gleichsetzung von lokal produzierter populärer Musik oder marginalisierten musikalischen Traditionen mit antihegemonialer Politik. Das bei weitem größte Problem der Musikethnologie liegt allerdings in der Dominanz kommunikationswissenschaftlicher Denkmodelle. So wird in zahlreichen Studien der Medienkonsum in seiner Relevanz als Schnittstelle von Medien und gesellschaftlicher Praxis überbetont – und in der Regel durch quantitative empirische Untersuchungen überhaupt erst als Realität konstitutiert.

Häufig werden auch Wirkung und Funktion der Medien auf allzu einfache Modelle von Sender und Empfänger reduziert und infolgedessen Medienproduktion und Medienkonsum thematisch und theoretisch voneinander abgetrennt.

Globalisierung fördert das nationale Denken

Der vielerorts erstarkende Nationalismus und Regionalismus ist mit nicht minder bedeutsamen Strömungen der Globalisierung verschränkt. Der Rückzug auf vermeintlich unwandelbare Grundmerkmale ethnischer und lokaler Identität ist die Reaktion auf eine immer internationaler werdende Gesellschaft. Die Einsicht, daß angesichts dieser Dynamik ein statischer Begriff von Musikkultur seine Grundlage verlieren muß, beginnt sich erst allmählich durchzusetzen.

Ein Blick auf die wichtigsten musikethnologischen Lehrbücher der letzten Jahre zeigt, daß Vorstellungen geopolitischer Ordnung aus dem 19. Jahrhundert der sich stetig verändernden Geographie des späten 20. Jahrhunderts und den problematischen Beziehungen von Ort und Identität nicht mehr gerecht werden. So liegt einer musikalischen Topographie, die die Welt in Bereiche wie die Musik Schwarzafrikas, die Musik des Nahen Ostens, die Musik Japans usw. einteilt, letztendlich ein universalistischer Begriff von räumlicher und kultureller Identität zugrunde, der von der dezentralisierten transnationalen Kultur längst überholt wurde.

So ist zum Beispiel kaum zu übersehen, daß ein beträchtlicher Teil der weltweit produzierten Musik im Wortsinne weltweit produziert ist. Die Produktionsorte etwa der antillischen Zouk-Musik liegen nicht nur auf Martinique, sondern auch in Paris und New York. Der ghanaische Highlife wird überwiegend in Toronto und Hamburg aufgenommen, und die Hörerschaften türkischer Arabesk-Musik leben weder ausschließlich in der Türkei, noch sind sie notwendigerweise nur Türken.

Daß umgekehrt die rapide fortschreitende Globalisierung von Kultur nicht automatisch auch den Verlust lokaler Identität bedeutet und zu orientierungslosem Nomadismus führt, belegt beispielsweise eine von Karin Barber und Christopher Waterman vorgelegte Studie zu Musikvideos bei den Yoruba in Nigeria (1995).

Importierte Technologie hat nicht selten die „Indigenisierung“ europäischer Formen gefördert. Die Entwicklung der modernen Yoruba-Musik, schreiben die beiden Autoren, durchläuft zunächst eine Phase der Ausdehnung, in der sich lokale Idiome über ihr Ursprungsgebiet hinaus verbreiten. Es folgt eine Phase der Domestizierung, bei der fremde Elemente aus einer Vielzahl von Quellen in lokale Stile und Strategien integriert werden. Das letztendliche Ziel jeder Aufführung ist jedoch die dritte Phase: die Intensivierung der Präsenz, des Images und der Marktchancen lokaler Akteure.

Kultureller Kontext als neuer Maßstab

Daß der neue Kulturbegriff nicht nur das Objekt der Geistes- und Sozialwissenschaften verändert, sondern zugleich einen Funktionswandel von Wissenschaft widerspiegelt, wird kaum noch bezweifelt. Wissenschaft kann heute ihr Monopol auf die Erzeugung von Wahrheit nur noch mühsam behaupten, und infolge der Erosion des wissenschaftlichen Objekts ist in zahlreichen Disziplinen auch eine Demontage des Subjekts zu verzeichnen. Im Falle der Ethnologie wurde so die ohnehin fragwürdige Autorität ethnographischer Repräsentation immer weiter ins Wanken gebracht.

Während diese Entwicklung im anglophonen Sprachraum zur Entstehung einer neuartigen, cultural studies genannten Fachrichtung führte und in der Ethnologie eine heftige Debatte über die Krise der Repräsentation auslöste, deutet sich der Wandel in der Musikethnologie nur in Ansätzen an. Ethnographien einzelner Ethnien und ihrer Musik haben nicht nur Detailstudien einzelner sozialer Gruppen, Regionen, Städte und geschlechtsspezifischer Musizierpraktiken Platz gemacht, auch der Wahrheitsanspruch und panoptische Blick des Forschers wird zunehmend zugunsten der Darstellung von intersubjektivem Dialog zwischen Angehörigen verschiedener musikalischer Welten preisgegeben.

Damit einhergehend erlangt auch die Analyse, von jeher die Hauptdomäne der Musikologie, eine neue Bedeutung. Statt auf die vermeintlich objektive Struktur eines Musikstückes richtet sich das Augenmerk der Forscher jetzt auf die Prozesse und diskursiven Praktiken, die sich in einer bestimmten musikalischen Struktur manifestieren. So ist zum Beispiel die moderne türkische Arabesk-Musik nicht einfach das Ergebnis einer abstrakten stilgeschichtlichen Entwicklung, deren Logik sich aus der vergleichenden Analyse mit vorherigen Stilen ergibt.

Analyse wird hier gleichbedeutend mit der Interpretation eines hochkomplexen Geflechts von Diskursen und musikalischen Praktiken innerhalb eines umfassenden „kulturellen Feldes“, und folgerichtig versieht Martin Stokes sein der Arabesk-Musik gewidmetes Buch mit dem bezeichnenden Titel „The Arabesk debate“ (1992). An die kognitive Anthropologie der 70er Jahre anknüpfend, begreift er Halk, die von den staatlichen Institutionen und den Medien propagierte Volksmusik, und Arabesk, die Musik der Gegenkultur, der an den Rand gedrängten Migranten der großen Städte, nicht etwa als „verschiedene Arten, Musik aufzuführen oder zu erfahren“, sondern als „verschiedene Arten, über Musik zu reden“.