Der unendliche Prozeß

■ Seit 20 Jahren dümpelt vor dem Bonner Landgericht ein Zivilverfahren um die Colonia Dignidad vor sich hin

Das Aktenzeichen 3 O 123/77 wird in die Geschichte der deutschen Justiz eingehen als Kürzel für einen der längsten Zivilprozesse aller Zeiten. Nach 20 Jahren befindet sich das Verfahren, das am 25. Mai 1977 begann, noch immer in der ersten Instanz vor dem Bonner Landgericht. Der Prozeß ist außergewöhnlich: Zu Zeiten der Militärdiktatur in Chile untersuchte ein deutsches Gericht, ob dort im Auftrag des Geheimdienstes gefoltert und gemordet wurde.

Im März 1977 hatte die deutsche Sektion von amnesty international in der Broschüre „Colonia Dignidad – Deutsches Mustergut in Chile – ein Folterlager der DINA“ drei Zeugenausagen zusammengetragen, die belegten, daß die Colonia Dignidad der Geheimpolizei DINA dabei behilflich gewesen war, nach dem Putsch in Chile im September 1973 politische Gegner zu foltern und zu ermorden. Ein entsprechender Artikel der Journalisten Kai Hermann und Hero Buss erschien am 17. März 1977 in der Illustrierten Stern. Über einen Monat lang war die Colonia Dignidad Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen und Fernsehberichte, ohne daß die Sekte reagiert hätte. Erst als amnesty international für den 23. April 1977 eine Informationsveranstaltung in Siegburg, dem damaligen Sitz der Sekte in Deutschland, ankündigte, erreichte die Colonia eine einstweilige Verfügung gegen amnesty international und verklagte am 27. April 1977 den Stern und am 25. Mai 1977 amnesty auf Unterlassung der Behauptungen.

Nachdem nun die „Sociedad Benefactora Y Educacional Dignidad“, Chile, und die „Private Sociale Mission e.V.“, Siegburg, Klage eingereicht hatten, mußten amnesty und der Stern Beweise liefern. 1978/79 präsentierte ai insgesamt neun Zeugen, darunter sieben ehemalige politische Gefangene, die aussagten, in der Colonia gefoltert worden zu sein, und einen ehemaligen Geheimdienstagenten, der berichtete, mehrfach Gefangene in die Kolonie transportiert zu haben.

Die geschilderten Einzelheiten und Ortsbeschreibungen der Gefangenen, die alle mit verbundenen Augen in die Kolonie transportiert worden waren, reichten dem Landgericht als Beweis nicht aus, auch nicht die als Tonbandprotokoll vorliegende Aussage des 1977 ermordeten ehemaligen DINA-Agenten Juan René Muñoz Alarcón, des berüchtigten Kapuzenmannes aus dem Nationalstadion, der politische Gegner identifiziert hatte, die anschließend gefoltert wurden. Kurz vor seiner Ermordung hatte er in einer Lebensbeichte dem katholischen Solidaritätsvikariat berichtet, daß er in der Colonia Dignidad an der Ermordung von politischen Gefangenen beteiligt gewesen war.

Das Bonner Landgericht erließ am 22. 1. 1980 einen umfangreichen Beweisbeschluß, der die Überprüfung der Zeugenaussagen vor Ort, also in Chile, zum Gegenstand hatte. Mitte 1981 lehnte die chilenische Militärjunta dieses Ansinnen mit dem Hinweis auf ihre Souveränitätsrechte ab. Prof. Dr. Blumenwitz von der Universität Würzburg half der Sekte und der chilenischen Diktatur durch ein entsprechendes Rechtsgutachten. Daraufhin beschloß das Gericht, die Untersuchungen „in Amtshilfe“ von einem chilenischen Gericht durchführen zu lassen. Fast fünf Jahre lang wurden die Akten zwischen Deutschland und Chile hin- und hergeschoben, immer wieder wurden Übersetzungen angezweifelt und neue Unterlagen angefordert.

Im Herbst 1987 kam es dann endlich zu ersten Zeugenvernehmungen des chilenischen Gerichts. In Deutschland machte derweil im Februar 1988 ein Unterausschuß des Deutschen Bundestages eine Anhörung zur Colonia Dignidad, bei der nicht nur das brutale Vorgehen der Sektenspitze gegenüber den einfachen Mitgliedern offenbar wurde, sondern sich auch die Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten bestätigte.

Drei geflohene Sektenmitglieder schilderten Einzelheiten über Gefangene, Waffenkäufe und gestohlene Fahrzeuge von politischen Gefangenen. Unter dem Eindruck dieser Enthüllungen fand im April 1988 schließlich der Lokaltermin in der Colonia Dignidad statt, der weltweite Aufmerksamkeit erregte. Unter Beobachtung von bis zu 60 Journalisten leitete eine chilenische Richterin die Untersuchungen, bei denen sie sich an den umfangreichen Fragenkatalog des Bonner Landgerichts halten mußte.

Obwohl die Sekte und der Geheimdienst elf Jahre Zeit hatten, die Spuren zu beseitigen, konnten zahlreiche Details der Zeugenaussagen bestätigt werden. Trotzdem ist seither in dem Prozeß praktisch nichts geschehen. Die Aussagen und Protokolle der chilenischen Richterin wurden nach Deutschland geschickt. Im März 1991 stellte die sogenannte Rettig- Kommission des neu gewählten demokratischen chilenischen Parlaments fest, daß die Colonia Dignidad ein Folterort der DINA war.

Am 18. März 1993 wurde der „Sociedad Benefactora Y Educacional Dignidad“ durch den christdemokratischen Präsidenten Alywin endgültig der Rechtsstatus entzogen. Die Gesellschaft ist aufgelöst. Die Sekte war allerdings so schlau, vor dieser Entscheidung praktisch alle Vermögensgegenstände der Gruppe auf neu gegründete Gesellschaften zu übertragen. Faktisch existiert die Colonia Dignidad weiter.

Nur für den Zivilprozeß sind amnesty international und dem Stern die Prozeßgegner abhanden gekommen, denn auch der deutsche Arm der Sekte ist aufgelöst. Der Stern und amnesty international haben jetzt das Bonner Landgericht aufgefordert, nach der gegebenen Aktenlage zu entscheiden. Jürgen Karwelat