„Ich will den Mann hinter Gittern sehen“

Wolfgang Kneese ist 1965 aus der deutschen Colonia Dignidad in Chile geflohen. Nicht fliehen konnte er vor den Erinnerungen. Aber kämpfen: Um seine Würde, sein Recht und für die Bestrafung des Sektenchefs Paul Schäfer  ■ Von Bernd Pickert

Paul Schäfer vergewaltigte ihn gleich in der ersten Nacht. Es war 1957, Wolfgang Müller war zwölf Jahre alt. Er war gerade angekommen in Siegburg, im Jugendheim Heide, in das ihn seine Mutter auf Anraten seiner Tante aus dem heimatlichen Hamburg geschickt hatte. Er sagte ihr nichts. Er hatte Angst. Würden ihm die anderen ansehen, daß Paul Schäfer, der selbsterklärte Evangelist, mit Sperma an den Händen von ihm weggegangen war, um im Nebenraum die Gemeinde zu segnen? Was wollte ihm sein Körper sagen, der eine Erektion bekam, als er Schäfer zu Willen sein mußte? Gefiel ihm gar, was der autoritäre Führer der Sekte mit ihm anstellte? Wolfgang Müller schämte sich, sprach mit niemandem, blieb in Heide und war bald fest eingebunden in die „Private Sociale Mission“, die Schäfer und der Baptistenprediger Hugo Baar 1956 ins Leben gerufen hatten und der seine Tante angehörte.

Vierzig Jahre später. Wolfgang Kneese, vormals Müller, sortiert in seiner 60-Quadratmeter-Wohnung in Hamburg Papiere, blättert in alten Dokumenten. Auf dem Küchentisch liegen kleine Stapel, gerade ausgerichtet. Links daneben, vor dem Fenster steht ein Faxgerät, aus dem alle Stunde eine Nachricht aus Chile, eine Meldung der Nachrichtenagenturen, die Kopie eines Zeitungsartikels hervorquellen. Im Wohnzimmer stehen Hängeregister und Ordner auf dem Teppichboden – Presseausschnitte, wohlgeordnet, Korrespondenz. 150 Aktenordner hat Kneese schon auslagern müssen. Seine Wohnung ist zu klein geworden für dieses Archiv. Einziges Thema: Colonia Dignidad. Am Regal hängt ein Zettel: „Ein Huhn gackert erst, wenn das Ei gelegt ist.“ Kneese hat ein Ziel: Er will Paul Schäfer das Handwerk legen.

1956: Eine Sekte für einen Päderasten

Der, so ist sich Kneese inzwischen sicher, hat die ganze Sekte nur aufgebaut, um seiner Päderastie nachgehen zu können. Das Regime war schon in Heide darauf ausgerichtet: „Den einen Tag mußte man die größte Dreckarbeit machen, wurde ständig schikaniert, es war alles falsch, was man gemacht hat, und man wurde geschlagen. Aber im nächsten Moment kam wieder eine Situation, da war man etwas ganz Besonderes. Paul Schäfer hatte das Prinzip, daß er eines der Kinder als seinen Diener zu sich holte. Er nannte das ,Sprinter‘. Diese Kinder waren den ganzen Tag von schwerer Arbeit befreit und konnten sogar die Kommandos von Schäfer an Erwachsene weitergeben. Man hatte eine wichtige Funktion für einen Tag. Am Abend duschte man dann mit den anderen Jungen zusammen, und dann kam Paul Schäfer und seifte einen ein, spielte an den Genitalien herum, bis die sich plötzlich auch noch erigierten, und flüsterte einem ins Ohr, man solle doch schon mal in sein Zimmer gehen, er würde gleich nachkommen. In diesem Zimmer setzte man sich dann in aller Regel auf einen Stuhl vor eine Höhensonne, in der man sich nackt bräunte. Schäfer schlich wie ein räudiger Kojote um einen herum. Man hatte eine Augenschutzbrille wegen der Höhensonne auf, man konnte ihn nicht sehen. Und dann landete man in den Händen von Schäfer. Er machte es teilweise, was ich auch erlebt habe, mit zwei Kindern gleichzeitig.“

Als 1960 eines der Kinder wagt, in der Öffentlichkeit zu reden und seine Eltern Anzeige erstatten, gerät Schäfer in Panik. Er wird wegen Kindesmißbrauchs per Haftbefehl gesucht, aber es gelingt ihm, das Land Hals über Kopf Richtung Chile zu verlassen. Den Sektenmitgliedern wird erklärt, in Europa stünde der Dritte Weltkrieg bevor – sie müßten nachkommen. Hugo Baar, Schäfers Sozius, organisiert die Ausreise der Erwachsenen, inzwischen fast 200 Menschen – die rund 50 Kinder werden praktisch entführt. Jeweils drei bis vier Kinder werden aus dem Unterricht in der Grundschule in Much geholt und direkt ins Flugzeug nach Chile gesetzt. Ihre Eltern erhalten Briefe, die Kinder befänden sich auf einer Chorreise nach Kopenhagen – erst später erfahren sie die Wahrheit.

In Siegburg bleibt nur eine Außenstelle der „Privaten Socialen Mission“ unter Leitung von Hugo Baar. Der Verkauf der Jugendheimstatt an die Bundeswehr bringt Schäfer 900.000 Mark – genug, um sich in Chile, 350 Kilometer südlich von Santiago, ein abgeschiedenes Gelände zu kaufen. „Schäfer hatte uns versprochen, daß wir in Chile ein Paradies vorfinden würden, in dem Milch und Honig fließen – und die Wirklichkeit sah dann so aus, daß wir in eine Einöde kamen, da war nichts, was auch nur irgendwie nach Zivilisation aussah. Wir haben die erste Zeit in Zelten campiert. Zum Essen haben wir uns Hasen geschossen – von der Größe mittlerer Hunde. Das war im Grunde genommen Abenteuer pur.“ Aber es war eben auch die Hölle.

Schäfer läßt Müller in Chile in Ruhe – mit 15 Jahren ist er zu alt für dessen sexuelle Vorlieben. Aber die strikte Herrschaft eines willkürlichen, unmenschlichen Regelwerkes bleibt. Schäfer ist der religiöse Führer. Alle müssen ihm beichten – selbst ihre Gedanken müssen sie vor Schäfer ausbreiten. „So weiß er bald alles über jeden, hat alle in der Hand, niemand kann sich entziehen. Er verlangt immer höhere Leistungen: „Arbeit ist Gottesdienst.“ Wer nicht spurt, wird bestraft, wird geschlagen. Sexualität außerhalb von Schäfers Schlafzimmer ist tabu. Die wenigen Ehen, die erlaubt sind, müssen den Nachwuchs der Kolonie garantieren. Die Kinder werden sofort von ihren Eltern getrennt. „Die einzige menschliche Wärme, die wir als Kinder bekommen haben, war der sexuelle Akt mit Paul Schäfer“, sagt Wolfgang Kneese heute. Leiser, fast gezischt, fügt er hinzu: „Und dafür muß dieses Schwein bezahlen.“

Die ehemalige Sicherheitsbeauftragte der Colonia, Lotti Packmor, berichtet nach ihrer Flucht 1985: „In der Nacht mußten sich die Kinder entkleidet in Rückenlage hinlegen. Wir standen in der Mitte und mußten die Kinder beobachten. Bewegte sich in sexueller Hinsicht etwas, wurde das Kind herausgenommen und mit dem elektrischen Viehtreiber bearbeitet. Auch an den Hoden. Ich war dabei, wie die Jungen Injektionen in die Hoden bekamen. Die Hoden schwollen dann furchtbar an.“

Anfang der 60er Jahre ist die Kolonie noch nicht mit Stacheldraht, Stolperdrähten und Infrarotkameras gesichert. 1962 versucht Müller eine erste Flucht, er kann das Lager verlassen. Aber die Colonia hat von seiner Mutter das Sorgerecht übertragen bekommen. Als die Polizei ihn findet, wird er zurückgebracht. Nach seiner zweiten Flucht 1963 ergeht es ihm nicht besser: „Nachts mußte ich in einer Zelle schlafen, die man mir extra gebaut hatte, mit Holzgitterstäben. Ich hatte ein Zimmer im Krankenhaus, in dem ein Teil abgetrennt war, wo sich zwei Bewacher aufhielten. Auf dem Flur saß eine Krankenschwester mit einem Schäferhund. Wenn ich pinkeln mußte, mußte ich das in den Strohsack erledigen, so daß ich im eigenen Urin lag. Dafür wurde ich dann am nächsten Morgen noch als große Sau bezeichnet.“

Müller ist ständig von zwei Bewachern umgeben. Er wird unter Drogen gesetzt, muß täglich Beruhigungstabletten schlucken. Er spuckt sie heimlich wieder aus. Als seine beiden Bewacher das merken, werden die Tabletten in Wasser aufgelöst, das er dann trinken muß – aber auch das lernt er heimlich wieder auszuspucken. Schließlich bekommt er ständig Spritzen mit Beruhigungsmitteln, verbringt die Tage wie im Nebel und wird gleichzeitig von Schäfer an die gefährlichsten Arbeitsplätze geschickt – etwa an die offene Kreissäge im Sägewerk. Er soll einen Unfall haben. Es ist das einzige Mal, daß Wolfgang Müller vor Paul Schäfer auf die Knie geht: Er bittet den Sektenchef verzweifelt, die Spritzen abzusetzen. Ohne Erfolg.

1963 kommt seine Mutter nach Chile. Sie erzählt bis heute, sie habe ihn aus der Colonia Dignidad herausholen wollen. Vielleicht glaubt sie das sogar selbst. Tatsächlich kommt sie mit Sack und Pack, um in der Colonia zu leben. Als sie erfährt, wie es Wolfgang ergangen ist, wehrt sie sich, wird weggeschlossen. Ihr Sohn bekommt sie monatelang nicht zu Gesicht.

Er erinnert sich, wie sie bei ihrer Ankunft ausgesehen hatte – eine Frau Anfang vierzig, mit kräftigem, braunen Haar. Als er Monate später gerufen wird, um sie am Krankenbett zu besuchen – ihr ginge es nicht gut, wird ihm gesagt –, sieht er eine alte Frau mit grauen Haaren. Er fragt sie, wann sie angekommen sei? „Gestern“. Wie sie gekommen sei? „Mit dem Auto.“ Da weiß er: Sie haben sie fertiggemacht. Seine Mutter hat noch heute die Verbrennungsspuren von den Elektroden an den Schläfen. Sie wurde gefoltert mit jenen Elektroschockgeräten, die Müllers Vormund Hugo Baar in Deutschland gekauft und in Containern mit Hilfsgütern nach Chile geschickt hatte.

Ihn, Hugo Baar, den ehemaligen Baptistenprediger, sieht Wolfgang Müller 1988 wieder: vor der Anhörung im Bundestagsuntersuchungsausschuß, der die Foltervorwürfe gegen die Colonia klären soll. Sie treffen sich im Privathaus des Referenten von Norbert Blüm. Eine Zerreißprobe. 1985 ist auch Baar aus der Colonia geflohen. Er teilt die Vorwürfe gegen Schäfer, wird von der Colonia ebenfalls als geisteskrank denunziert. So steht er plötzlich auf der gleichen Seite wie Kneese – und ist doch der, dessen Gesicht diesen jahrelang durch seine Alpträume verfolgt hat, den er im Traum hunderte Male umgebracht hat, auf grausame Weise ermordet, erniedrigt hat. Kneese geht zu Baar hin, sagt ihm: „Herr Baar, das einzige, was ich für Sie empfinde, ist der dringende Wunsch, Ihnen den Schädel einzuschlagen.“ Dennoch spricht er bis morgens um vier mit Baar, versucht, ihn zu überzeugen, an der Anhörung teilzunehmen.

Baar entschuldigt sich öffentlich pauschal, er habe wohl eine Mitschuld. Kneese ruft ihn in den folgenden Jahren gelegentlich an, um bestimmte Informationen zu erhalten. Baar gibt die Informationen, nicht widerwillig, aber auch nicht voller Enthusiasmus im Kampf gegen Schäfer. Bei Wolfgang Kneese und seiner Mutter hat sich Baar bis heute nicht persönlich entschuldigt.

1965: Der dritte Fluchtversuch gelingt

1965, Müller ist neunzehn Jahre alt, gelingt ihm die dritte Flucht aus der Colonia. Draußen alarmiert er sofort die Medien, erzählt seine Geschichte. Er schafft es, sich bis Santiago durchzuschlagen, sucht die Deutsche Botschaft auf, sagt alles, was er über die Colonia weiß. Die Botschaft versteckt ihn vor der Sekte in einem Altenheim.

Die Colonia strengt einen Prozeß gegen ihn an – wegen Beleidigung und Diebstahl eines Pferdes, das er für seinen zweiten Fluchtversuch gesattelt hatte. Müller kommt für 120 Tage in Untersuchungshaft. Mit Hilfe seiner Tante, die inzwischen ebenfalls in der Kolonie lebt, erstellt die Sekte ein psychologisches Gutachten über ihn, das sie bei Gericht vorlegt.

Darin wird Müller als gestört, dumm, lernunwillig, aggressiv homosexuell diffamiert – schwer geschädigt durch den Lebenswandel seiner ebenfalls geisteskranken Mutter, unter deren sexuellen Eskapaden er als Kind in Hamburg zu leiden gehabt habe. Das ist eine besondere Perfidie. Seine Mutter war gegen Kriegsende aus Königsberg nach Hamburg gekommen, schwanger, allein. Sie suchte einen Mann – und tatsächlich bekam Wolfgang davon in der engen Wohnung etwas mit. So vermischten sich in dem Gutachten reale Erfahrungen, die er selbst in seinen Beichtbüchern Paul Schäfer aufgeschrieben hatte, mit boshafter, hinterhältiger Verleumdung – Wolfgang Müller brauchte später Jahre, um die Gemeinheit richtig zu begreifen.

Was Müller draußen über Schäfer erzählt, daß der nämlich drinnen die Kinder mißbrauche und die Siedlung wie ein KZ führe, weist die Kolonieleitung als Beleidigung zurück – und zeigt Müller ihrerseits an. Der kämpft derweil darum, für sich selbst verantwortlich sein zu dürfen – denn sein Vormund ist noch immer Hugo Baar, der Mitbegründer der Sekte. Aus Siegburg schreibt Baar: „Wie können die chilenische Regierung und sogar die deutsche Botschaft in Santiago diesem Geisteskranken Gehör schenken?“

Das chilenische Gericht entscheidet zugunsten der Colonia, Müller wird zu fünf Jahren Haft „niedrigsten Grades“ und einer hohen Geldstrafe verurteilt (siehe Ausriß Seite 16) – aber er nutzt den Umstand, gegen Kaution frei zu sein. Er kann aus Chile über die Anden nach Argentinien gelangen – eine gefährliche Flucht, bei der er fast verunglückt – und sich so dem Gefängnis entziehen.

Im April 1967 kehrt Müller nach Deutschland zurück, in seine Heimatstadt Hamburg, weit weg von Siegburg, wo Hugo Baar noch immer die „Private Sociale Mission“ leitet, die deutsche Außenstelle der Colonia. Müller ist einundzwanzig Jahre alt, und das einzige, was er in der Colonia gelernt hat, ist, daß er für die Schule zu dumm sei, geistesgestört eben.

Er verdient sein Geld als Hafenarbeiter, Verkäufer, Straßenbauarbeiter, Hilfskraft. So kann er die Rechnung abzahlen, die ihm die deutsche Botschaft in Santiago geschickt hat: Insgesamt 9.526,87 Mark gab man für ihn aus – darin enthalten 974,05 Mark für einen Psychologen, den ihm die Botschaft in sein Versteck im Altenheim geschickt hat, um herauszufinden, ob er nicht doch geisteskrank ist. Alles ist penibel aufgelistet in einem Schreiben des Botschaftsattachés Woltmann, das Kneese noch in Santiago erhalten hatte, mit der freundlichen Aufforderung, sein Leben sparsam zu führen. Unter den Kosten ist auch ein Rasierapparat aufgeführt – der liegt noch heute bei Kneese im Badezimmer. Das Geld hat er auf Heller und Pfennig zurückgezahlt.

Wolfgang Kneese sucht menschliche Nähe und kann sie gleichzeitig nicht ertragen. Er geht viel tanzen, schläft mit vielen Frauen – aber „die kamen ja mit ihrem eigenen bepißten Leben selbst nicht zurecht“, er bleibt allein. Jede Nacht plagen ihn Alpträume, er wacht schreiend auf, zerbeißt sich die Lippen, schlägt um sich. Er sucht professionelle Hilfe, findet einen Psychiater, aber Räumlichkeiten und Auftreten des Mannes erinnern ihn so sehr an die Kälte und Arroganz der Kolonie, daß er sofort wieder geht. Er kauft sich psychologische Bücher, liest, was er kann, versucht, sich selbst zu begreifen, sich allein zu therapieren – und zu verdrängen.

1973 bewirbt sich Müller auf eine Anzeige, hat wider Erwarten Erfolg und beginnt als Bilddokumentar beim Gruner & Jahr-Verlag, im Bildarchiv des Stern – seine erste feste Anstellung, mit 28 Jahren. Er lernt Kollegen kennen, das soziale Gefüge eines Arbeitsplatzes, lernt „Dinge, die andere mit der Muttermilch eingesogen haben“. Müller kann beim Stern keine Karriere machen, er hat kaum Schulbildung. Aber er lernt seinen Job – die erste Bestätigung seit seiner Flucht aus Chile, daß die Colonia Unrecht hatte, als sie ihm Dummheit und Lernunfähigkeit attestierte.

Müller hat das Gefühl, die Erfahrung der Colonia zusehends abzuschütteln. Erst 1977 holt ihn die Geschichte wieder ein: Aus Chile, das seit fast vier Jahren unter der brutalen Diktatur der Militärs unter Führung von Augusto Pinochet leidet, mehren sich die Berichte, daß die Colonia Dignidad als geheimes Folterzentrum des Geheimdienstes DINA genutzt wird. Am 17. März 1977 erscheint im Stern eine große Geschichte über die Colonia: Unter dem Titel „Das Folterlager der Deutschen“ beschreibt Stern-Reporter Kai Hermann die Geschichte der Sekte. Informationsgeber unter anderem: Wolfgang Müller.

1977: Berichte über Folter in der Kolonie

Die Sekte belangt daraufhin den Stern und die Organistaion amnesty international, die in einer Broschüre dasselbe behauptet. Der Prozeß zieht sich. Als 1988 endlich konkrete Untersuchungen anstehen, will Kneese – so heißt Müller seit seiner Heirat mit Heike Kneese 1983 – gegen Schäfer in die Offensive gehen. Auf seine Initiative gründet sich die „Not- und Interessengemeinschaft für die Geschädigten der Colonia Dignidad“, bestehend aus über hundert Angehörigen von Mitgliedern der Sekte. Beim ersten Treffen im Dominikanerkloster Walberberg bei Bonn sind die meisten schockiert über die Erzählungen Kneeses, über die Berichte des geflohenen Ehepaars Packmor, des geflohenen Hugo Baar.

Viele stellen erst jetzt fest, daß sie von ihren Verwandten in Chile seit Jahren fast gleichlautende Briefe erhalten. Kneese wird einer der Sprecher der Gruppe, sucht nach Zeugen und informiert die Öffentlichkeit. Die richterliche Untersuchung in Chile und die Anhörung im Bundestag 1988 bestätigen alle Vorwürfe gegen die Colonia Dignidad – aber es geschieht nichts. Die Sekte wird nicht belangt. Bei der Staatsanwaltschaft Bonn ist schon seit 1985 ein Ermittlungsverfahren gegen Schäfer anhängig, auch das Auswärtige Amt weiß alles über die Sekte – ohne Folgen. Paul Schäfer kann in Chile weitermachen, als wäre nichts geschehen.

In Kneese kommen all die Demütigungen wieder hoch, die er schon überwunden geglaubt hatte. Er stürzt ab, verfällt in eine tiefe Depression, beginnt eine dreijährige Therapie. 1990 wird er auf Anraten des Therapeuten berufsunfähig geschrieben. Wolfgang Kneese wird Frührentner. „Jetzt hatte die Colonia doch geschafft, was Paul Schäfer immer behauptet hatte; daß ich ein Geistesgestörter sei.“ Es ist eine Niederlage. Und eine Erleichterung: Er kann sich der Therapie widmen, erhält einen Teil seiner Kindheit zurück.

Im November 1996 holt ihn die Colonia wieder ein. Nachdem erstmals auch chilenische Kinder ausgesagt haben, von Schäfer auf dem Dignidad-Gelände mißbraucht worden zu sein, bittet ihn die chilenische Kriminalpolizei, erneut auszusagen. Nachdem die Bestätigung da ist, daß er wegen der Verurteilung 1967 nicht mehr belangt wird, reist Kneese mit seiner Frau für zehn Tage nach Chile, wird dort rund um die Uhr von Spezialisten der Polizei beschützt, und macht seine Aussagen. Die Vergangenheit hat ihn wieder.

Der Kampf gegen Schäfer wird erneut Teil seines eigenen Genesungsprozesses: „Ich will von dem Geist von Schäfer weg, der immer neben mir steht und mir sagt, was falsch und was richtig ist. Noch immer, bei jeder kleinsten Entscheidung, wie ich die Wäsche aufhänge oder so etwas – da kommt Schäfer und sagt mir, ich mache das falsch. Diesen Übervater krieg' ich nur weg, wenn Schäfer hinter Gittern ist.“

Seit einem halben Jahr geht das nun wieder. Von der „Not- und Interessengemeinschaft“ hat sich Kneese weitgehend gelöst – mit dem „Flügelschlag e. V.“ hat er jetzt gemeinsam mit seiner Frau und guten Freunden einen eigenen Verein gegründet, hat von einem Sponsor Geld bekommen für den Kampf gegen Schäfer. „Sollte ich es tatsächlich schaffen, diesem Mann was in den Weg zu legen, – dann wäre ich vielleicht... ein kleiner Held. Wenn ich nicht gewinne, laufe ich Gefahr, als Oberdepp belächelt zu werden, der jahrelang für eine Sache gekämpft und nicht gewonnen hat. Das“, fügt er sehr leise hinzu, „müßte man dann auch irgendwie verarbeiten.“