Die Metapher nicht wecken

Graues Gespenst der inventarisierten Welt: Das Sprengel Museum Hannover zeigt in einer Retrospektive Fotografien von Albert Renger-Patzsch. Der „Handwerker der Ontologie“ wäre im Juni 100 Jahre alt geworden  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Es geht ein graues Gespenst um in der deutschen Fotografie, und es heißt Renger-Patzsch. Es hat ein Patent angemeldet auf mittelmäßige Unterhaltsamkeit, mittelgraue Töne und mittlere Distanz. Ob es um Pflanzen geht, um gotische Dome, um Werften und Zechen, Stahl und Glas, Ackerland und Kleingärten, Wasserkante und Steinbruch: das Gespenst hat alles dokumentiert und abgeheftet.

Im Juni vor 100 Jahren geboren, wurde Albert Renger-Patzsch zum Oberbuchhalter des Neuen Sehens, eine herrische Type mit stechenden Augen, ein Gourmet und Frühaufsteher, ein Zunftmensch mit professoralem Gestus, der einen frühen Querschnitt seines peniblen fotografischen Werks „Die Dinge“ nennen wollte, obwohl das Buch – unter dem Titel „Die Welt ist schön“ (1928) gelangte es zur Berühmtheit – auch Menschen und Tiere zeigte.

Für Renger-Patzsch machte es keinen Unterschied, solange er seine Architekturkamera mit 9 mal 12 Zentimeter Negativformat auf ein Stativ schrauben und das Objekt mit respektabler Schärfentiefe auf der Mattscheibe der Kamera so einzwängen konnte, daß sich einerseits der Eindruck von Vollständigkeit ergab – und andererseits dem Betrachter mit schwachen Restsignalen mitgeteilt werden konnte, daß es sich um eine konkurrenzlose Beschreibung handelte. Wenn das graue Gespenst kam, war das Wesen der Dinge für alle Zeit in Stein gehauen.

Tucholsky war fasziniert von der materiellen Direktheit einer Fotografie, die die feuchten Hände eines Töpfers am rotierenden Material zeigte; Benjamin witterte sofort den Verrat am revolutionären Programm des neuen Menschen im technischen Zeitalter. Der Fotograf selbst, der sein Talent vom Vater „geerbt“ haben wollte, gab sich als kauziger Pragmatiker. Tatsächlich war er ein Handwerker der Ontologie: „Die Seinsart von Zeug ist herauszustellen“, schrieb Heidegger – zwei Jahre, bevor Renger-Patzschs Hauptwerk erschien, und Hammer, Hobel und Nadel waren Heideggers Beispiele in „Sein und Zeit“, genau wie das „Schuhzeug“, die Brücken und „die öffentlichen Beleuchtungsanlagen“.

Die einsetzende Hagiographie der Jetztzeit läßt außer acht, daß Renger-Patzsch ein Industriefotograf war, dessen Stolz sich davon nährte, seinen Auftraggebern Genrebilder auszureden. Die wichtigste ökonomische Schere seiner Zeit, die Differenz von Handwerk und Industrie, interessierte ihn nicht. Er inventarisierte Zahnräder wie mittelalterliche Schnitzereien, gewaltige Präzisionsmaschinen wie Schmuckstücke einer mittelständischen Werkstatt und stellte die Meßgläser der Jenaer Glaswerke auf spiegelnden Grund, als handele es sich um die Zeptersammlung am Hofe. Nach demselben Prinzip fotografierte er ein Pferd am Pril, die Beine gespiegelt zur Verdeutlichung der Tatsache, daß das Pferd auf ihnen steht. Daß das Fell nicht transparent war zur Illustration des Innenlebens, nahm er gewissermaßen billigend in Kauf. Das unglücklichste Kapitel sind seine Lübeck-Fotos, denn der sachliche Fotograf kann mit der Hutzeligkeit der Altstadt nichts anfangen, fürchtet sich vor der Aura religiöser Architektur und hat als Gegenmittel eher spärliche Elemente monströser Industrie zur Verfügung, in deren Stahlträger er die Silhouette der Stadt einzwingt. Es gibt in seinem Blick überhaupt keinen Platz für das Dekor oder – psychoanalytisch gesprochen – für das Imaginäre. Deshalb ist sein Blick im Ruhrgebiet wirklich zu Haus, wo das Unberührte und das Verwahrloste kaum zu unterscheiden sind, wo das Verständnis der Industrie auf handwerklichem Ethos beruht. Und am überzeugendsten ist Renger- Patzsch in seinen Bildern von Pfaden, Wegen und Straßen, die leicht ansteigend oder fallend, verregnet und zerfurcht die deutsche „Depression“ beschreiben, eine Überblendung von sinnloser Mühsal und tradierter Angst (Georg K. Glasers „Geheimnis und Gewalt“ wäre die passende Lektüre).

Aber die Energien des grauen Gespensts sind darauf gerichtet, die Metaphorik nicht zu wecken, die in den „Dingen“ schlummert – und im „Zeug“. Das Werk ist verwurzelt in den Analogien, von denen sich schon der Jugendstil nährte: daß die gemachte Welt der gewachsenen ähnelt. Es gibt Kelche und Kolben, Spiralen und Spitzen, Behältnisse und Behausungen, in sich ruhende und aufwendig verstrebte Konstruktionen. Die Analogie will universal sein – „So ist die Welt!“ –, aber sie ist tatsächlich partikular. Es handelt sich um eine Theorie des Beispiels.

Deshalb ist es relativ fruchtlos, sich von neuem zu fragen, wie sich bei Renger-Patzsch Objekt und Abbildung zueinander verhalten. Wichtiger ist, was der Fotograf zu meiden versucht, nämlich die Metapher. Man muß ihn nur mit dem kalifornischen Fotografen Edward Weston vergleichen, dessen Werk ebenfalls zwischen 1928 und 1930 seine finite Gestalt annahm. Der fotografierte die Dünen als Miniatur und Pilze als Monumente. Seine Akte waren auf einer prekären Schwelle von Immaterialität und Fleischlichkeit, Kühnheit und Keuschheit angesiedelt. Weston berührte wirklich eine Logik des Seins, eine Ontologie des Objekts: indem er versuchte zu erkennen, wie und als was wir es begehren. An Westons Fotografien kann man sehen, daß der, der forschend blickt, nicht unverändert bleibt. Wobei Weston die Auseinandersetzung mit der ästhetischen Avantgarde seiner Zeit führte. Er war ein Tänzer, Sänger, Koch; er war mitten in der linken politischen Szene seiner Zeit. Aber der „Panzerkreuzer Potemkin“, befand er in seinem Tagebuch, sei kein Meilenstein des Neuen Sehens, sondern schwerfällige politische Propaganda.

Albert Renger-Patzschs Konservatismus war flach geschnitten im Vergleich, von provinzieller Gestalt und sozialer Enge. Die gewollte Distanz zur Boheme mußte er bezahlen mit einer Wahrnehmung, die sich aus ihrer Arretierung nicht lösen konnte. Das graue Gespenst hatte nicht die Formel für „die Dinge“, sondern klammerte sich an Dinge, die in seine Formel paßten. Nach 1945 steigerte sich der Fotograf im Zwang, das Objekt auf seinen Typus festzulegen, während die Schemen des Neuen Sehens versickerten in den diagonalen Schichten des Basalts oder in der Nacktheit der Fichten.

Es gelang ihm sogar, den Kontrakt der Produktion in seiner Art zu verkehren: Statt für die Industrie zu fotografieren, um sich als freier Fotograf Steinbrüchen und Wäldern zu widmen, überredete er seine Auftraggeber, ihm extravagante Europareisen und die aufwendige Publikation von Bildbänden zu finanzieren. So erschienen die Bücher „Bäume“ und „Gestein“ im Privatdruck von Boehringer Ingelheim; Ernst Jünger spendierte jeweils einen Essay. Womit der Kleinkrieg um die richtige Form im deutschen Geiste gewonnen war. Amerikaner schreiben darüber jetzt Dissertationen.

Albert Renger-Patzsch: Retrospektive. Bis 22.Juni, Sprengel Museum Hannover. Danach in Stuttgart, Winterthur, München und Dresden.

Katalog/Buch: „Meisterwerke“. 176 Seiten, Schirmer/Mosel, 98 bzw. 48DM. – „Das Spätwerk“. Cantz, 143 Seiten, 68DM