■ Querspalte: Tony oder Lionel?
Bonner Beobachter registrieren in diesen Maitagen Schwerstkonfusion unter deutschen Sozialdemokraten. Ein Riß geht durch die Partei, und keiner kauft Kitt. Erst kam der politische Erdrutsch in Großbritannien. Big Ben wackelte, und ein strahlender Sieger namens Anthony Blair ward geboren. So einen müßt ihr haben, schrien die Kioske. Die SPD braucht einen Tony – charmant, unverbraucht, aprilfrisch, ein Frauentyp, ein Medientyp, jung, dynamisch, volle Lippen, undogmatisch, mit einem fetten, netten Terrier. Ein Ruck ging durch die Partei: Kaum hatten die Londoner Wahllokale geschlossen, begann die große Blairisierung.
Rechtsausleger Schröder sucht einen dicken Schäferhund, Lafontaine räsoniert, das Resthaar tonyhaft einzurollen. Müntefering belegt den Benimm-VHS- Kurs „Charmant im Alltag“. Matthäus- Maier trägt statt pink-türkisem Prollschick nur noch dezentes britisches Tuch. Kurz: Alles war auf bestem Wege. Selbst in der Parteibaracke dampfte an der Kaffeetheke ein kräftiger Ceylon mit Shortbread auf den Untertellerchen. Dann kam Frankreich. Die Erde bebte, der Eiffelturm wackelte, und den Gesteinsmassen entschlüpfte ein strahlender Lionel Jospin – griesgrämig, spröde, schmallippig, uncharmant, kein Frauentyp, kein Medientyp, kein Hund, dafür aber voll dogmatisch. SPD, was nun? BildSternFocus, was nun? Tony oder Lionel? Schröder oder Erhard Eppler? Bullterrier oder Goldhamster? Frauentyp oder tote Hose? Oder eine Kreuzung, ein Blaispin, ein Jolair?
Ein neuer Richtungsstreit tobt. Die Jospisten in der SPD trinken schon morgens zum Zähneputzen schweren Roten. Statt Shortbread und schottischen Lachshäppchen gibt's stinkenden Camembert. Dazu schwarze Baskenmützen. Die Partei kann sich wieder nicht entscheiden.
Am Ende wird sie schwerst verwirrt weder Tony noch Lionel, weder Männlein noch Weiblein, sondern etwas Drittes wählen: einen eigenen Kandidaten. Schrecklich!
Manfred Kriener
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