Die am Nullpunkt

■ Straßenkinder vor und hinter der Kamera: Ein Themenabend dokumentiert eine Kindheit in Brasilien (20.45 Uhr, arte)

Nach dem schönen Wolfgang- Neuss-Motto „Heut mach ick mir kein Abendbrot, heut mach ick mir Jedanken“ bieten die Lateinamerika-Themenabende zumeist gut zusammengestellte Fakten, Dokumentarisches wie Hintergründiges und zur Abrundung meist noch einen Spielfilm. Dem Thema „América latina“ widmet Arte in diesem Jahr gar 11 ganze Themenabende. Nach „Tango“, „Gabriel Garcia Márquez“, und „Der Fluch von El Dorado“ im April wird die Reihe heute unter dem Motto „Das Gesetz der Straße – Jugend ohne Zukunft“ fortgesetzt.

Wie Reporter des eigenen Lebens

Schon bei den bisherigen Themenabenden fiel angenehm auf, daß sie zu einem guten Teil auch südamerikanische Produktionen präsentierten. Heute nun wird das Ergebnis eines weiteren Schrittes der transkontinentalen Zusammenarbeit präsentiert: Zwei der drei Filme sind in Zusammenarbeit mit den örtlichen Goethe-Instituten produziert worden.

Die Dokumentation „Marco Zero – Eine Kindheit in Brasilien“, die Albert Knechtel 1996 in São Paulo drehte, ist dabei nicht nur mit finanzieller, sondern auch mit inhaltlicher Unterstützung des dortigen Goethe-Instituts entstanden. Der Film gibt einen Einblick in das Leben der Straßenkinder der südamerikanischen Mega- Metropole. São Paulo mag die reichste Stadt des Subkontinents sein, sie zählt aber auch mit Abstand die meisten Favela-Bewohner: Zwei Millionen, so wird geschätzt. Wie viele Straßenkinder es wirklich in der Stadt gibt, weiß niemand – es müssen Zehntausende sein.

Über ein vom Goethe-Institut finanziertes Straßenkinderprojekt der „Pastoral do Menor“, im Zentrum der Stadt, kam Knechtel in Kontakt mit „Xaxu“, einem 18jährigen, der seit neun Jahren auf der Straße lebt. Xaxu arbeitete in einem Theater- und Videoworkshop der Pastoral mit, die eine der wenigen Organisationen ist, die sich wirksam um Straßenkinder kümmert.

Mit Hilfe der Videokamera wurden Xaxu und seine Freunde gewissermaßen Reporter ihres eigenen Lebens. Sie erzählen über sich, zeigen wie sie leben, berichten über ihre Erfahrungen und Träume. Sie gehen zu Vertretern der Stadt und zu einem Soziologen, um ihn über Kinder- und Jugendpolitik zu befragen. Und sie kommentieren die „autogerechte“ Tunnelpolitik des Bürgermeisters, die es den Autobesitzern São Paulos nun erlaubt, die Favelas noch schneller zu um- und unterfahren.

Indem er Xuxa gleichzeitig als Interviewer und Interviewten präsentiert, gelingt es Knechtel, das Leben auf der Straße zu zeigen, ohne je denunziatorisch zu werden. Man sieht, wie fast alle diese Kinder Schusterleim schnüffeln. Die Kamera begleitet sie zu ihren Schlafplätzen, zeigt, wie sie morgens von der Polizei geweckt und vertrieben werden und wie sie dann losziehen. Die Jugendlichen berichten über ihre kleinen Klauereien und Dealereien, über ihre Jobs als Straßenverkäufer und Autoscheibenputzer an den Ampeln. In Interviews mit Sozialarbeitern wird klar, wie sehr die Polizei die Kinder drangsaliert und wie wenig dagegen getan wird. So erfährt man etwas von der Angst, in der die Straßenkinder leben, ihrer Hoffnungslosigkeit, aber auch ein wenig von den Möglichkeiten, die sie hätten, wenn man sie behandeln würde, wie sie es verdienten.

Manche werden reich – alt werden sie nie

Brasilien hat zwar vorbildliche Gesetze zum Kinder- und Jugendschutz, die Realität für Straßenkinder aber ist ein ständiges Spießrutenlaufen. Der Markstein auf der Praca de Sé, wo sie sich täglich treffen, heißt Marco Zero. Marco Zero heißt Nullpunkt.

„Darsena Sur“, ein Dokumentarfilm des jungen argentinischen Filmemachers Pablo Reyero – ebenfalls mit Hilfe des Goethe-Instituts entstanden – zeigt das Leben dreier junger Leute, die am Ufer des Rio de la Plata in einem der scheußlichsten Viertel von Buenos Aires gleich neben einem petrochemischen Komplex aufgewachsen sind. Auch dieser Film hat das marginalisierte Leben von Jugendlichen zum Thema: Der Dreck einer Riesenstadt, der zum Lebensraum ihrer ärmsten Bewohner geworden ist, und sie krank- und kaputtmacht.

Der mehrfach ausgezeichnete venezolanische Spielfilm „El Sicario“ von José Novoa schließlich zeigt den vermeintlichen Ausweg, den manche Jugendliche aus den Slums Südamerikas wählen. Sie werden „sicarios“ – bezahlte Killer. Manchmal werden sie damit reich. Alt werden sie nie. Thomas Pampuch

„Marco Zero“, 20.45; „Darsena Sur“, 21.55 Uhr; „El Sicario“, 23.10 Uhr