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Glückliche Menschen mit Sorgen

Die Einstellung der Hongkonger zur Rückkehr nach China unterliegt starken Schwankungen. Umfragen zeigen aber auch, daß die Bevölkerung mit dem Status quo zufrieden ist  ■ Von Peter Seladonis

Die Hongkonger betrachten sich als glückliche Menschen, sind zufrieden mit der britischen Kolonialregierung und lieben ihren Gouverneur. Von dem Provisorischen Legislativrat, der am 1. Juli das gewählte Parlament ersetzt, halten sie dagegen nicht viel. Dies geht aus Meinungsumfragen hervor, die Universitätsinstitute regelmäßig über einen längeren Zeitraum hinweg durchführen.

Die Einstellung zur Zukunft der Kronkolonie hat den Umfragen zufolge in den letzten fünfzehn Jahren stark geschwankt. 1982 sprachen sich noch 85 Prozent der Bevölkerung für einen Verbleib Hongkongs unter britischer Oberhoheit aus. Lediglich 4 Prozent favorisierten eine Rückkehr zu China. Auf Grund der Veränderungen in der Volksrepublik stieg die Zahl der Befürworter gar auf 75 Prozent – bis zum 4. Juni 1989, dem Tag des Massakers auf dem Platz des Himmlichen Friedens in Peking. Unmittelbar danach sank die Zahl auf 52 Prozent. Immerhin befürworteten 1996 noch 46 Prozent der Befragten grundsätzlich die Zugehörigkeit Hongkongs zu China. Ein fast gleich großer Anteil sprach sich jedoch für einen anderen Status von Hongkong aus: 18 Prozent waren für die Beibehaltung des Status quo, 14 Prozent favorisierten die Unabhängigkeit, 12 Prozent befürworteten die Zugehörigkeit zum Commonwealth.

Überraschend positiv ist die Einstellung der Bevölkerung gegenüber der Kolonialregierung. 73 Prozent der Bevölkerung zeigten sich im Februar 1997 mit der Regierung zufrieden. 90 Prozent gaben sogar an, sie wären mit ihrem Leben in Hongkong glücklich. Vor allem Gouverneur Patten erfreut sich großer Beliebtheit: Patten, dem Peking vorwirft, durch seine demokratischen Reformen die Schuld an der Krise in Hongkong zu tragen, brachte es im April sogar auf die Traumrate von über 79 Prozent auf der Beliebtheitsskala.

Dagegen schneidet der von Peking ins Leben gerufene Provisorische Legislativrat weniger gut ab. Trotz der ständig wiederholten Beteuerung der Nachrichtenagentur Neues China in Hongkong, der Provisorische Legislativrat repräsentiere den Willen der Bevölkerung, zeigen die Umfragen ein anderes Bild. Lediglich 4 Prozent betrachten ihn als ein Organ, das die Interessen der Hongkonger Bevölkerung schützt, hingegen billigen 48 Prozent dem noch amtierenden Legislativrat diese Eigenschaft zu. Einer anderen Umfrage zufolge sind nur 22 Prozent der Bevölkerung davon überzeugt, daß der Provisorische Legislativrat glaubwürdig ist. Auch jüngste Umfragen zur Entwicklung der Pressefreiheit sind nicht gerade ermutigend: Jeder fünfte von 553 Journalisten hat öffentlich zugegeben, mit Rücksicht auf Peking bereits Selbstzensur zu üben, und über die Hälfte waren der Ansicht, daß die Pressefreiheit nach 1997 erheblich eingeschränkt sein wird. Etwa die Hälfte der Befragten hatte es abgelehnt, die Fragen zu beantworten.

Es ist kaum zu erwarten, daß Peking die sich in den Umfragen spiegelnde Meinung der Bevölkerung in seine Politik einbezieht. So hat der frühere Direktor der Nachrichtenagentur Neues China in Hongkong, Xu Jiatun, in einem Interview in der hongkongchinesischen Zeitschrift The Nineties im Mai die Politik Pekings erläutert. Xu war maßgeblich an der Ausarbeitung der Politik Pekings gegenüber Hongkong beteiligt. 1990 setzte er sich in die USA ab.

Das wichstigste Ziel für Peking sei, so Xu, die Zusammenarbeit mit den Großkapitalisten in der Kolonie. Zugleich soll verhindert werden, daß die „Mittel- und Unterschichten“ Einfluß auf den politischen Entscheidungsprozeß gewinnen. Denn dies werde nur zu Steuererhöhungen und Steigerungen der Sozialausgaben führen mit der Folge, daß Hongkong seine Anziehungskraft auf ausländische Investoren verlieren könnte. Daraus folge die Notwendigkeit einer „Verlangsamung des Demokratisierungsprozesses“ in Hongkong.

Diese Strategie soll für die nächsten zwölf Jahre gelten. Die Auswahl des Schiffsmagnaten Tung Chee-hwa zum Nachfolger Pattens und die Einsetzung eines handverlesenen Provisorischen Legislativrates durch Peking erscheinen aus dieser Sicht als eine konsequente Umsetzung der Strategie.

Fortsetzung

stration, um an die gewaltsame Niederschlagung der Demokratiebewegung in Peking zu erinnern. Die von der Führung Chinas als subversiv gebrandmarkte Allianz hat zahlreichen chinesischen Dissidenten zur Flucht verholfen. Kürzlich hat die Allianz Akten und Gelder vorsorglich in Sicherheit gebracht.

„Hongkongs Bevölkerung fühlt sich hilflos“, sagt Lee. In der Straße des Viertels Yau Ma Tei auf der Halbinsel Kowloon, wo Lees Büro ist, reiht sich eine kleine, garagengroße Werkstatt an die nächste. „Selbst wenn die Menschen das Regime in China nicht mögen, haben sie das Gefühl, es als Realität akzeptieren zu müssen“, so Lee. Für seine 120.000 Mitglieder zählende Gewerkschaft erwartet er Probleme. Arbeiter, die Mitglieder werden wollen, könnten unter Druck gesetzt werden. Doch Probleme werde auch der Peking- freundliche Gewerkschaftsverband bekommen, weil er die Briten nicht mehr für die unternehmerfreundliche Politik verantwortlich machen könne.

Gleich nebenan ist das Büro der Allianz. Sechs StudentInnen sitzen an einen Tisch und beraten über ihre Aktivitäten in der nächsten Woche. Überall in der Stadt haben sie schwarzweiße Transparente mit der Parole „Vergeßt den 4. Juni nicht“ aufgehängt. Für den achten Jahrestag des Pekinger Massakers ruft das Bündnis zum Trauermarsch auf. Im letzten Jahr kamen 40.000 Menschen. Diesmal könnte es die letzte Demonstration werden. Das Aufstellen einer Gedenkstatue wurde von Pro-Peking-Kräften bereits verhindert. „Die Allianz wird zum Lackmustest für die Formel ,Ein Land, zwei Systeme‘. Bleibt die Organisation erlaubt, wird das Vertrauen steigen“, sagt Lee.

Ganz andere Perspektiven sehen die Einwohner des Dorfes Kat Hing Wai in Kam Tin in den New Territories. Hier wartet man seit 99 Jahren auf die Rückkehr zu China. Das quadratisch angelegte Dorf mit seinen engen Gassen wird von einer fünf Meter hohen Mauer aus schwarzen Ziegeln umgeben. Am Eingangstor bieten sich alte Frauen in traditioneller bäuerlicher Kleidung für 10 Hongkong- Dollar als Fotomotiv an. Auf einem roten Plakat heißt es: „Die Rückkehr Kam Tins zu China ist glorreich.“ Kat Hing Wai verweigerte sich 1898 der Übernahme durch die Briten, die den Widerstand gewaltsam brachen. Für Peking hat das Dorf deshalb einen besonderen Stellenwert.

„Die Menschen in Hongkong wurden nie gefragt, ob sie eine britische Kolonie werden wollen. Genausowenig hat man sie gefragt, ob sie zu China zurück wollen“, sagt Li San San, die bei einer Frauenorganisation arbeitet und in Kam Tin wohnt, das von Schrott- und Lagerplätzen sowie verlassenen britischen Kasernen umgeben ist. Wollten die Briten wirklich Demokratie, meint Li, hätten sie Hongkong längst demokratisieren können. Noch 1988, als es eine Bewegung für direkte Wahlen gab, habe London dies abgelehnt. „In den letzten Jahren sind gute Gesetze verabschiedet worden, doch es war zu spät, um eine Kultur politischer Beteiligung zu verankern“, so Li.

Die 36jährige Lily Chan gehört zu den rund 600.000 Hongkongern, die sich einen ausländischen Paß besorgt haben. „1984 war ich für die Unabhängigkeit. Damals dachte ich, wir hätten diese Option“, sagt die Pädagogikdozentin beim Gespräch in einem Shopping-Center auf Hongkong Island. In ihrer Familie gibt es mittlerweile vier verschiedene Staatsbürgerschaften. „Wir wollten sogar Land kaufen und ein privates, unabhängiges Hongkong ausrufen“, erinnert sie sich. Seit 1989 fühlt sie sich als Chinesin, ihren britischen Paß will sie nur im Notfall benutzen. „Ich hatte nie das Gefühl, ein Heimatland zu haben. Ich habe immer nach einer Antwort gesucht, wenn ich nach meiner Identität gefragt wurde“, sagt Chan.

„Wir sind Chinesen, und wir sind stolz darauf, Chinesen zu sein“, sagt Hongkongs künftiger Regierungschef Tung Che-hwa bei einem Dinner der Asia Society mit 1.200 geladenen Gästen. Der 60jährige frühere Reeder mit dem Bürstenhaarschnitt ist einer der reichsten Männer der Stadt. In seiner Rede im direkt am Hafen gelegenen Kongreß- und Ausstellungszentrum, in dessen Neubau in einem Monat die Übergabefeierlichkeien stattfinden, betont Tung asiatische Werte und chinesischen Nationalismus. „Wir müssen uns ständig bewußt sein, daß wir ein Teil Chinas sind. Wir sind ein Land. Was immer wir in Hongkong machen, wir müssen dabei Chinas Ziel im Auge behalten, Wohlstand für alle Chinesen zu schaffen und eine Führungsrolle in der Gemeinschaft der Nationen zu bekommen.“ Die langfristigen Interessen von Hongkong und China seien identisch. „Was für Hongkong gut ist, ist auch für China gut, und was für China gut ist, ist sehr gut für Hongkong“, so Tung.

Manche fragen sich, ob Tung Hongkongs Mann in Peking oder Pekings Mann in Hongkong ist. Erstmal müsse er das Vertrauen der chinesischen Regierung gewinnen, um dann unabhängiger von Peking agieren zu können, lautet die Hoffnung.

Eine Hoffnung ganz anderer Art sieht Leung Kwoc Hung von der Aktionsgruppe 5. April, die nach dem Datum einer großen Demonstration im Jahre 1976 während der ersten Demokratiebewegung in China benannt ist. „Hongkongs Rückgabe ist eine Chance“, meint er. „Die Menschen können nicht mehr ignorieren, daß sie Chinesen sind. Wenn sie ihre politische Situation verbessern wollen, müssen sie lernen zu kämpfen.“ Die Gruppe unterhält im Händlerviertel Mong Kok in Kowloon ein kleines Büro. Der Aktivist mit Che-Guevara-Anstecker und hüftlangem Haar hat in China Einreiseverbot, seit er auf dem Weg nach Peking mit 20.000 Unterschriften für die Freilassung politischer Gefangener abgefangen wurde. Er und seine kleine radikale Gruppe glauben nicht daran, das die Formel „Ein Land, zwei Systeme“ funktioniert. „Es wird ein einziges System entstehen, ein kapitalistisches“, sagt Mitstreiterin Susan Lai Siu-chun. Die Gruppe setzt sich für Basisdemokratie in ganz China und die Kontrolle der Fabriken durch ihre Beschäftigten ein.

Student Tommy Wang hat inzwischen vor der Bank of China schon für das zweite Aktienformular für seine Eltern angestanden. Zufrieden hält er den golden eingebundenen, Telefonbuch-schweren Prospekt von Beijing Enterprises in der Hand. „Der große Andrang ist nicht unbedingt ein Vertrauensbeweis für die Zukunft. Für die meisten ist es eher ein Glückspiel mit guten Gewinnchancen“, meint er.

Am nächsten Morgen heißt es in der Zeitung Hong Kong Standard: „Die Menschen sind hinter dem schnellen Geld her. So ist die Bevölkerung hier. Vielleicht versteht China die Menschen Hongkongs viel besser, als die Briten sie je verstanden haben. Am Übergang zur Sonderverwaltungsregion sieht Hongkong nur große Dollarzeichen vor seinen Augen. Kann es da einen Zweifel an der Zukunft geben?“

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