Über eine Million Überstunden

■ Franz Hellstern, Bundesvorsitzender der JVA-Bediensteten, klagt über die „unerträgliche Arbeitsbedingungen“in Deutschlands Knästen

Überstunden, volle Gefängnisse, zuwenig Personal, miese Bezahlung, keine gesellschaftliche Anerkennung – die Liste der Klagen der Männer und Frauen, die in deutschen Gefängnissen arbeiten, ist lang. Am Wochenende tagte der Bundesvorstand der Strafvollzugsbediensteten in Bremen. Über die Sorgen und Nöte der JVA-Mitarbeiter sprachen wir mit ihrem Bundesvorsitzenden Franz Hellstern. Er arbeitet seit 37 Jahren im Strafvollzugsdienst und ist Beamter in der JVA Freiburg.

Herr Hellstern, Sie tagen in Bremen, wo gerade ein Justizskandal für Schlagzeilen sorgt. Gegen eine Ihrer Kolleginnen ist dieser Tage Anklage wegen Körperverletzung im Amt erhoben worden. Beschäftigen Sie sich mit diesen Vorfällen auch, oder haben Sie ganz andere Sorgen?

Natürlich haben wir auch darüber gesprochen. Aber daß die Tagung in Bremen stattfindet, ist reiner Zufall. Solche Übergriffe, wenn sie sich denn als wahr herausstellen sollten, sind absolute Einzelfälle. Es gibt viel mehr Gewalt unter den Gefangenen. Übergriffe von Beamten auf Gefangene gab es früher einmal. In den letzten Jahren werden Sie kaum einen Fall finden. Die Probleme im Strafvollzug liegen ganz woanders.

Wo drückt Sie denn der Schuh?

Wir haben eine Bestandsaufnahme gemacht und festgestellt, daß die Verhältnisse in den Justizvollzugsanstalten in allen Ländern etwa gleich sind. Ganz weit vorn rangiert die Klage über die Überbelegung. Die Gefängnisse in Deutschland sind übervoll. Es gibt immer mehr Gefangene und immer weniger Personal. Wir haben unter den Gefangenen über 50 Prozent Ausländer. In unseren Anstalten herrscht ein babylonisches Sprachengewirr. Außerdem haben wir immer mehr gefährliche und gewaltbereite Gefangene betreuen müssen. Wir haben die Drogenszene. Wir haben mit HIV-Infizierten zu tun. Neuerdings müssen wir auch mit Tätern aus dem Bereich der organisierten Kriminalität fertigwerden. Insgesamt hat sich die Klientel der Gefangenen so negativ verändert, daß alles über uns zusammengebrochen ist. Wir werden mit den Problemen überhaupt nicht mehr fertig.

Was muß Ihrer Meinung nach geschehen?

Die Politik muß sich endlich zu uns bekennen. Wir brauchen mehr Personal. Wir wissen, daß das Geld kostet. Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Das muß der Politk halt etwas wert sein.

Wieviele Gefangene betreut ein JVA-Beamter derzeit?

In deutschen Gefängnissen betreut ein Beamter im Schnitt etwa 40 Gefangene. Das ist entschieden zu viel! Deshalb leidet zwangsläufig auch die Sicherheit.

Wieviele Beamte fehlen Ihrer Einschätzung nach?

Bundesweit fehlen etwa 3.500 Vollzugsbeamte. Ansonsten werden dem dem Auftrag des Gesetzes nicht gerecht. Die Politik muß sich mal entscheiden – wenn sie dem Strafvollzugsgesetz mit seinen Ansprüchen gerecht werden will – damit meine ich die ernstzunehmende Resozialisierung sowie den Schutz der Allgemeinheit – dann muß dafür auch das Personal zur Verfügung gestellt werden.

Sie haben Kontakt zu den Bediensteten der Justizvollzugsanstalten im ganzen Bundesgebiet. Worüber klagen Ihre KollegInnen am häufigsten?

Die Überbelegung führt zu unerträglichen Arbeitsbedingungen. Man kann nicht mehr vernünftig arbeiten. Wenn Sie sich vorstellen, daß man 40 Gefangene zu betreuen hat, von denen Sie die Hälfte nicht mehr verstehen können, weil Sie die Sprache nicht verstehen können. Sie müssen die Gefangenen betreuen und gleichzeitig die Sicherheit beachten – sonst laufen Sie Gefahr, daß gegen Sie ein Disziplinarverfahren eingeleitet wird. Das kann man optimal eigentlich nicht mehr erfüllen.

Wir schieben einen riesigen Berg von Überstunden vor uns her. Die JVA-Beamten in Deutschland haben über eine Million Überstunden geleistet! Dafür werden wir aber miserabel bezahlt. Wir hinken ganz erheblich hinter der Polizei her, obwohl auch wir ein Teil der inneren Sicherheit sind. Außerdem fehlt die gesellschaftliche Anerkennung. Wir werden immer noch als mittelalterliche Wärter bzw. deren Nachfolger angesehen. Es wird einfach nicht akzeptiert, daß dieser schwere Dienst sozial und gesellschaftlich sehr wichtig ist. Darunter leiden wir sehr.

Interview: Kerstin Schneider