Einfach den Alltag erzählt

■ Gesichter der Großstadt: Die 15jährige Sandra Vivian Wagner beschreibt den täglichen Rassismus - und gewinnt damit den Euro-Wettbewerb über "Rassismus in Europa"

Rassismus und Diskriminierung hat Sandra Vivian Wagner schon oft erlebt. Zwar nicht am eigenen Leib, aber bei ihren FreundInnen und MitschülerInnen. Das letzte Mal war das, als der Personalchef eines großen Kaufhauses einer ihrer türkischen MitschülerInnen einen Praktikumsplatz verweigerte. Die Begründung: Weil sie ein Kopftuch trage und die KundInnen das als „abstoßend“ empfänden. Sandra fand das Verhalten des Personalchefs „schockierend“ und „beschämend“. Sie kennt das Mädchen gut und weiß, daß sie das Kopftuch freiwillig und aus religiöser Überzeugung trägt: „Sie will damit ihren Glauben ausleben.“

Dieser Vorfall war ein Grund für die 15jährige Sandra, sich am Aufsatzwettbewerb des Europäischen Parlaments zum Thema „Rassismus in Europa“ im Rahmen des Europäischen Jahres gegen Rassismus zu beteiligen. Ausgerechnet der Spiegel ist für die Schülerin der 10. Klasse des Diesterweg-Gymnasiums dann der Auslöser, den Essay zu schreiben. Die Wochenzeitschrift veröffentlichte Mitte April ihre Geschichte „Gefährlich fremd – das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“, eine Story über kopftuchtragende, koranlesende muslimische Mädchen und Jungs mit geballter Faust und Springmesser auf dem Titelblatt. Als der Spiegel druckt, untersucht Sandras Klasse im Deutsch- unterricht gerade die Rhetorik von Goebbels Sportpalast-Rede „Wollt ihr den totalen Krieg?“. Eine Schülerin bringt das Blatt mit in den Unterricht, und zusammen mit der Lehrerin analysieren die Kids nach der Goebbels-Rede die Sprache des Spiegel-Artikels. Weil die Schülerinnen – 40 Prozent von ihnen sind Nichtdeutsche – wissen wollen, was man gegen einen solchen rassistischen Artikel „tun“ könne („,Russendisko‘ ist doch echt ein abwegiges Wort“), ruft die Lehrerin, eine engagierte Referendarin, schließlich im Büro der Ausländerbeauftragten Barbara John (CDU) an, die auf den Aufsatzwettbewerb verweist.

Und Sandra beginnt zu schreiben. Ganz spontan. Zwei Abende sitzt sie in ihrem winzigen Neubauzimmer, das Pferdebücher und CDs der Kelly-Familiy schmücken, und hackt die geforderten 250 Zeilen in den Computer. Das was sie aufschreibt, sind Erlebnisse aus ihrem eigenen Leben: Sandra, die im Wedding aufgewachsen ist, schreibt über ihre Klavierlehrerin aus Japan, die keine ständige Arbeitserlaubnis bekommt, aber in Deutschland bleiben möchte. Sie berichtet über die guten und manchmal schwierigen Beziehungen, die sie zu ihren nichtdeutschen MitschülerInnen hat: „Viele Ausländer kleiden sich anders, haben andere Sitten, Feiertage und Religionen. Sie haben einen völlig anderen Lebensstil. Aber wer kann sich anmaßen, zu urteilen, welcher der bessere ist?“

Sandra, die eher schüchtern als aufmüpfig wirkt, übt auch gesellschaftliche Kritik, und das nicht zu knapp: Sie verurteilt die verschärfte Abschiebepolitik, den aufblühenden Nationalstolz der Deutschen und den Einfluß der Medien, der die Entwicklung des Rassismus stark beeinflusse. So schreibt sie über den Spiegel-Titel: „Diese Artikel geben bereits von der ,Schuld‘ der Ausländer überzeugten Menschen noch Hoffnung, daß sie im Recht sind, wenn selbst so eine seriöse und bekannte Zeitschrift solche Artikel veröffentlicht.“

Die Jury ist von Sandras Essay so begeistert, daß sie ihr einen der zwei ersten Preise zuerkennen, eine Reise nach Israel mit den GewinnerInnen der anderen EU- Länder. Ihr „Schreibtalent, gepaart mit gut durchdachter gesellschaftlicher Betrachtung“ wird überschwenglich gelobt. Übrigens erreichten nur 62 deutsche Einsendungen, darunter acht von von rechtsgerichteten Jugendlichen, das Büro der Ausländerbeauftragten. Für den Koordinator des Wettbewerbs, einem Berliner Lehrer, dennoch eine „hohe Beteiligung“.

Doch obwohl Sandra, die gerne mal Medizin oder Journalismus studieren möchte, in ihrem Aufsatz die gesellschaftlichen Mißstände ausführlich kritisiert, die ein rassistisches Klima begünstigen, hat sie sich selbst noch nie öffentlich engagiert. Politische Gruppen oder Jugendorganisationen interessieren sie nicht so sehr, als daß dort mitarbeiten wollte: „Von deren Programm war ich nicht überzeugt.“ Vielleicht auch deshalb, weil das Gymnasium, das sie besucht, nach eigenen Angaben sehr „brav“ ist. „Wir dürfen dort nicht protestieren“, sagt sie etwas bedauernd. Also keine Schuldemos gegen Sparmaßnahmen. Kein öffentlicher Protest nach dem gescheiterten Praktikum der türkischen Mitschülerin.

Deswegen beschäftigt sich Sandra in ihrer Freizeit eher mit ihrem Meerschweinchen, das sie über alles liebt. Sie geht zweimal in der Wochen zum Ballett oder spielt in der selbstgegründeten Damenfußballgruppe („Damit konnte ich mich an meiner Schule durchsetzen“). Mit ihren Eltern – ihre Mutter ist Angestellte, ihr Vater Verwaltungsleiter – hat sie bisher noch nicht ausführlich über den Inhalt ihres Aufsatzes geredet: „Das mache ich lieber in der Schule“.

Dennoch wird sich Sandra Wagner weiterhin mit dem Thema beschäftigen. Zwangsläufig. Denn Diskriminierung bekommt sie fast alle Tage mit: Heute fährt Sandra für zwei Wochen auf Klassenfahrt in die Toskana. Eine ihrer Mitschülerinnen, die einen libanesischen Paß hat, darf die Fahrt nicht mitmachen, weil das geltende Ausländerrecht ihr nicht gestattet, aus Berlin auszureisen. Julia Naumann