■ Türkei: Der unaufhaltsame Niedergang der Tansu Çiller: Der Preis des Machterhalts
Die regierende Koalition unter Ministerpräsident Necmettin Erbakan und Außenministerin Tansu Çiller hat sich auf Neuwahlen in kürzester Zeit verständigt. Doch nicht demokratische Legitimationsprobleme haben die Koalitionspartner, deren Regierung die parlamentarische Mehrheit verloren hat, zu diesem Schritt bewogen. Die Wählerverzeichnisse sind unvollständig und werden auch bis zu den Wahlen nicht erneuert werden können. Das Wahlgesetz will das Gespann Erbakan/Çiller in Windeseile verändern, um sich Vorteile zu verschaffen. Und noch in diesem Monat will Erbakan auf sein Amt verzichten, damit Çiller als Ministerpräsidentin in den Wahlkampf ziehen kann.
Ein überraschendes Bild: Erbakan und Çiller sind ein Herz und eine Seele. Und niemand sollte sich wundern, wenn Çiller, die Erbakan einst als „Terroristen“ denunzierte, der einen theokratischen Staat errichten wolle, ein Wahlbündnis eingehen wird.
Um die Macht zu erhalten, ist Çiller jedes Mittel recht. Sie koalierte mit den Islamisten, um einer Anklage vor dem Verfassungsgericht wegen Korruption zu entgehen. Sie deckte ihren Innenminister Mehmet Agar, der Massenmörder und Heroinhändler mit diplomatischen Pässen ausstattete. Den Antrag der Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Immunität hat Çiller in trautem Dialog mit Erbakan verhindert. Im Gegenzug durfte Erbakan militante islamische Kader in den Staats- und Justizapparat schleusen. Nach der elfmonatigen Koalition kann Erbakan seinen Anhängern eine Erfolgsbilanz präsentieren. Der lange Marsch durch die Institutionen, dessen vorläufiger Gipfel Erbakans Ministerpräsidentschaft war, hat sich bewährt. Erfolgreich führte Erbakan die Militärs, die das säkulare Verfassungssystem in Gefahr wähnen, an der Nase herum.
Doch Çiller hat die Partei des rechten Weges in den Abgrund geführt. Sie ist nur noch als Anhängsel Erbakans überlebensfähig. Daran wird sich auch in den wenigen Monate bis zu den Wahlen nichts ändern, in denen Çiller die Ministerpräsidentschaft übernimmt. Nach den Wahlen kann Çiller vielleicht als Dienstbotin des islamistischen Phantasten Erbakan einen Job ergattern. Ömer Erzeren
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