Juden in Berlin wählten ihr Parlament

Die mit Spannung erwartete Wahl für eine neue jüdische Gemeindeversammlung endete mit dem Sieg von Reformern. Wahlverlierer sind die Emigranten aus der früheren Sowjetunion  ■ Aus Berlin Anita Kugler

Gestern früh um fünf Uhr ratterte der Faxapparat von Andreas Nachama. Der Wahlausschuß der Jüdischen Gemeinde zu Berlin hatte knapp 14 Stunden lang die Stimmzettel für die Neuwahl des Gemeindeparlaments ausgezählt. Nun sollte er auch das Ergebnis unverzüglich erfahren. Kandidat Nachama durfte sich freuen. Er erhielt das beste Ergebnis überhaupt. Der 46jährige, Sohn des Oberkantors Estrongo Nachama und promovierter Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, bekam 1.950 Stimmen. Dr. Herman Simon (48 Jahre), Leiter des Centrum Judaicums, wurde zweiter mit 1.772 und Dr. Alexander Brenner (52 Jahre), früher Diplomat in Tel Aviv und Moskau, dritter mit 1.719 Stimmen.

Damit steht fest, was sich schon im Vorfeld abgezeichnet hatte: Die Ära Galinski ist endgültig zu Ende; die Generation der Holocaust- Überlebenden wird von deren Kindern abgelöst. Die Repräsentantenversammlung, die in den nächsten vier Jahren die Geschicke der Gemeinde lenken soll, ist politisch pluralistisch zusammengesetzt. Das Gremium wird nun von Intellektuellen und nicht wie bisher von Kaufleuten dominiert. Die Chancen stehen gut, daß die mit 10.500 Mitgliedern größte Jüdische Gemeinde Deutschlands wieder jenes politische Gewicht erhält, welches in der letzten Legislaturperiode durch die Unfähigkeit des Vorstands unter Leitung Jerzy Kanals – der nicht mehr kandidierte – verspielt worden ist.

Die 21 am Sonntag gewählten Mitglieder der Repräsentantenversammlung (RV) werden sich auf ihrer ersten Sitzung (voraussichtlich am 18. Juni) einen fünfköpfigen Vorstand geben. Favorit für das schwierige Amt des Gemeindevorsitzenden ist Andreas Nachama. Der taz sagte er gestern, daß er dieses Amt übernehmen würde, wenn er „mindestens 70 bis 80 Prozent der RV-Stimmen“ bekomme. Als eine der wichtigsten Bedingungen für seine Wahl nannte er die Unterstützung durch die Emigranten aus der früheren Sowjetunion, die seiner Meinung nach auch in der nächsten RV zu schwach repräsentiert sind: „Unsere Gemeinde besteht zu mehr als der Hälfte aus Neuzuwanderern, aber in der RV sind sie nur mit einem Fünftel vertreten. Dies ist der einzige Wermutstropfen dieser doch sehr erfreulich verlaufenen Wahl.“ Als Schwerpunkte der künftigen Gemeindearbeit nannte er neben der Arbeit für eine bessere Integration der Zuwanderer auch die Kulturarbeit sowie die Professionalisierung des Verwaltungsapparats.

Die schlechten Voten für Kandidaten der jüdischen Zuwanderer aus Osteuropa ist die größte Überraschung der Wahl. Von den zwölf Personen des Emigrantenwahlbündnisses „Die Stimme der schweigenden Mehrheit“ wurde nur eine in die RV gewählt – ironischerweise der einzige Deutsche auf dieser Liste, nämlich Rechtsanwalt Albert Meyer. Er erhielt 1.055 Stimmen. Der eigentliche Sprecher der Emigrantenliste, der Journalist Arkadi Schneidermann, verfehlte mit 815 Stimmen den Einzug ins Gemeindeparlament deutlich.

Ein Grund des Mißerfolgs könnte die niedrige Wahlbeteiligung gewesen sein. Von den insgesamt 8.787 wahlberechtigten Berliner Juden haben nur 3.634 tatsächlich ihre Stimmen abgegeben – 41 Prozent des Wahlvolks. Während Nachama meinte, daß von dieser Quote „die Evangelische Kirche nur träumen könnte“, behauptet Schneidermann, daß die jüdischen Emigranten „desinformiert“ und – schlimmer noch – „manipuliert“ worden seien. So könne er Beweise dafür liefern, daß bei der Briefwahl nicht „alles mit rechten Dingen zugegangen sei“. Er will die Wahl anfechten, was die konstituierende Sitzung der RV auf Ende Juni verschieben könnte.

Unter den 21 gewählten Mitgliedern befinden sich 7, die auch dem vorigen Gemeindeparlament angehörten. Dazu gehören Norma Drimmer, früheres Mitglied des von Jerzy Kanal geführten und inzwischen aufgelösten Liberal-Jüdischen Blocks (1.220 Stimmen), und Moishe Waks, Sprecher der oppositionellen Demokratischen Liste (1.443 Stimmen). Er trat als Unabhängiger in dieser erstmalig als Personenwahl deklarierten Wahl an.

De facto hatte sich aber im Vorfeld der Wahl neben der Liste der Zuwanderer ein zweites Bündnis („Das Team“) organisiert. Neben Norma Drimmer, Hermann Simon und Julius Schoeps (1.289 Stimmen) wurden weitere sieben Kandidaten dieser Liste in die RV gewählt. Der Favorit Nachama gehört nicht dazu und will auch weiter unabhängig bleiben.