Bürgerjournalismus, was ist das?

Der Journalismus hat Bedeutung, weil die Zivilkultur der Kommunität eine Bedeutung hat. Eine amerikanische Initiative zur Errettung des Journalismus vor den Medien. Das Verhältnis von Lesern und Schreibern verändert sich  ■ Von Jay Rosen

Die Bewegung des Bürgerjournalismus ist entstanden als Reaktion auf ein ganzes Bündel von Problemen, die sich für bestimmte Journalisten nach der Wahlkampagne von 1988 stellten. Symbol dessen war Michael Dukakis gewesen, der in einen Panzer kletterte, um zu zeigen, daß er eine starke Verteidigungspolitik vertritt. Nach diesem Debakel gab es sehr viel mehr Selbstkritik als sonst: „Wir sind auch selber mit schuld, wir sind Teil dieses Medienzirkus geworden. Wir sind Teil des Establishments geworden, zu professionellen Politikos.“ Viele von uns haben gesehen, daß der Journalismus, mit dem wir beschäftigt sind, für die meisten Leute und ihre lokalen Lebenszusammenhänge nicht mehr relevant war.

Wir haben uns diese Fragen gestellt, weil wir das Überleben unserer Kunst in Frage gestellt sahen. Leitartikler und Journalisten schrieben schon Artikel über das zunehmende Desinteresse der Öffentlichkeit an Zeitungen, insbesondere ihrer politischen Berichterstattung. Und die Arbeitgeber, Verleger und Besitzer in den Medienunternehmen ängstigte das Wegbrechen der Leser. Medienunternehmen sind kommerzielle Unternehmen, aber ihre Eigentümer sind gleichzeitig auch Besitzer einer öffentlichen Identität, einer öffentlichen Verpflichtung. Wir sagen, daß in Amerika diese Verpflichtung auf einen Dienst an der Öffentlichkeit durch die First Amendment (Garantie der Rede- und Informationsfreiheit) gesetzt ist.

Mein Interesse ist das Überleben des Journalismus, ob die Medien dabei helfen oder nicht. Die Medien sind mir nicht so wichtig. Ich bin sicher, sie werden blühen, wachsen und gedeihen – schließlich ist dies das Medienzeitalter. Aber die öffentliche Kunst, die wir Journalismus nennen, diese demokratische Praxis, hat ihre eigene Zukunft, und mich interessiert, wo die ist. Ich glaube immer noch, daß einige Zeitungsunternehmen gewillt sind, sie in der stärkeren Verbindung mit den Menschen selbst, mit dem öffentlichen Leben zu finden. Aber ob es genug sein werden, ist nicht gesagt. Und es ist auch nicht gesagt, daß diese Unternehmen genug Ressourcen dafür bereitstellen. Wir müssen ein Ideal entwickeln, damit jeder, der uns unterstützen will, etwas Lebendiges, Wichtiges vor Augen hat, was Unterstützung verlangt.

Im Grunde geht es bei der Debatte um Bürgerjournalismus um die Haltung von Journalisten zu der Möglichkeit, eine neue Rolle einzunehmen. Ich bin der Meinung, daß irgendeine Form von Bürgerjournalismus von anderen realisiert wird, falls die US-Presse beschließt, daß sie nichts damit zu tun haben will. Irgendein ganz neues Medium, das mehr mit dem öffentlichen Interesse zu tun hat, wird zusammen mit anderen Medien so oder so entstehen. Aber das Verhältnis zwischen Schreibern und Lesern verändert sich, und einer der Gründe dafür ist das Internet. Das bedeutet auch eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Journalisten und Bürgern – und wir versuchen, die Implikationen dieser Veränderung auf zweierlei Weise zu durchdenken: Indem wir darüber schreiben und nachdenken und indem wir in konkreten Kommunitäten mit konkreten Zeitungen, die anders sind, experimentieren [zu Kommunität siehe Anmerkung d. Ü.].

Es kann sein, daß Bürgerjournalismus sich am Ende aus der Welt der Medien herauslöst und einen anderen Platz findet, vielleicht die zivilere Welt der Universitäten, Stiftungen und Bürgergruppen. Die Leute können heutzutage ihre Medien selber machen. Und sie brauchen dafür eine Philosophie, die sich mit der journalistischen Praxis beschäftigt und fragt, wie die produktive Beziehung zwischen Journalisten und Kommunität aussehen kann, so daß am Ende Bürger und Journalisten etwas gemeinsam produzieren, das man Nachrichten nennt.

Die Experimente des Bürgerjournalismus reichen vom Seriösen bis zum Absurden. Eine Eigentümlichkeit, gewissermaßen eine charmante Kuriosität der Idee ist, daß sie eine sowohl radikale als auch banale Dimension hat. Auf der einen Ebene sagen wir, daß Journalisten in Verbindung bleiben sollen mit ihrer Kommunität, ihrer konkreten Leserschaft: Das ist die banale Seite. Wenn wir das Journalisten erzählen, die etwas älter sind, kriegen die die Wut, weil sie wissen, daß das mal das Normale war – als Journalismus ein Teil des städtischen Lebens war. Radikaler wird es, wenn es heißt: Journalismus ist keine l'art pour l'art; man macht nicht Journalismus, weil man Journalismus machen will. Vielmehr geht es um Demokratie, und das bedeutet, daß Journalisten über ihre Arbeit und deren Rolle in der Demokratie nachdenken müssen. Welche Beziehung haben wir zur Kommunität, der wir „dienen“?

Und dann ist man plötzlich konfrontiert mit der Beziehung, wie sie wirklich ist. Das Minimum ist, daß man „unterrichtete Kreise“ hat, aber nicht unbedingt Leute, die mitten drin stecken. Man hat kaum je Gespräche, die einem Auskunft geben darüber, was bei den Leuten wirklich ansteht, oder ein Kontrollsystem, das einem schnell verklickert, was eigentlich abgeht. Das sind alles Aspekte unserer Beziehung zur Kommunität. Und dann wird dir klar, daß sie nicht mehr funktioniert. Und zwar so, daß du die Wahrheit nicht mehr rauskriegst. Wenn man Journalisten fragt, die nach dem Prinzip Bürgerjournalismus arbeiten, wie sie darauf gekommen sind, erzählt jeder von irgendeiner Erfahrung dieses radikalen Getrenntseins von der Gesellschaft.

Das ist ein Faktor: die Leute, die Bürgerjournalismus machen wollen. Dann kommt ein anderer dazu, und zwar, was andere Journalisten darüber gesagt und geschrieben haben, besonders die Elitepresse, also die New York Times, die Washington Post, die Wochenmagazine, die Hauptstadtpresse. Durch ihre Brille gesehen, wurde Bürgerjournalismus plötzlich wieder etwas sehr anderes. Der Vorwurf war, daß Bürgerjournalisten sich ihr professionelles Urteil abkaufen ließen, wenn sie den Fokus der Berichterstattung von der Leserschaft bestimmen lassen – und zwar wesentlich aus kommerziellen Gründen.

Bürgerjournalisten, sagt die Elitepresse, seien eigentlich Aktivisten, die selber Probleme in der Kommunität lösen wollten. Anders ausgedrückt: Sie sollten lieber gleich Objektivität und Neutralität fahren lassen und Aktivisten werden. Und Bürgerjournalismus wurde drittens als Verschwörung des kommerziellen Sektors – Wall Street! – bezeichnet, als Werbeidee irgendwelcher MBAs. Weshalb diese Angriffe?

Diese Presse ist der Meinung, daß jeder, der einigermaßen gut ist, sowieso längst schon bei ihnen in New York oder Washington arbeitet. Aber unsere Idee geht natürlich genau in die andere Richtung. Wir kommunizieren nicht von einer Position professioneller Hierarchie nach unten, wie beim Pulitzerpreis, sondern die Idee kommt von unten. Der Autor und Journalist James Fallows (Chefredakteur der US News and World Report) erzählte, er habe sich nach dem Vietnamkrieg mal das Pentagon angesehen. Da war also eine Institution, die gerade eine große Niederlage erlitten hatte, aber die Führung hatte kein Interesse an einem prinzipiellen Neuanfang. Dasselbe passierte in der Autoindustrie nach der Invasion des Marktes durch die Japaner. Einige gab es, die zum Neuanfang bereit waren, und dazu, die Fundamente freizulegen, um das Gebäude neu zu errichten. Sie fingen an, sich Gehör zu verschaffen. Aber sowohl im Pentagon als auch in Detroit wurden die Reformer lächerlich gemacht – bis man begriff, daß ihre Vorstellungen Sinn machten. Fallow ist der Meinung, daß Bürgerjournalismus in einer ähnlichen Position ist und eine ähnliche Reaktion hervorruft. Seine Haltung ist einfach: Dies ist ein Experiment, die Teilnehmer daran sind klug, müssen aber mit Begrenzungen arbeiten; das Beste ist, das Gute vom Schlechten zu trennen.

Das wäre auch für die Elitepresse eine gesunde Einstellung – statt dessen haben sie das Experiment verworfen. Bürgerjournalismus ist nur das Symptom einer größeren Krise, in der sich viele Berufe in Amerika befinden – hier betrifft es die Beziehung zwischen Journalisten und Politik. Er ist ein Experiment mit den Bedingungen dieser Beziehung, das zu neuen Bedingungen führen soll. Wenn das gelingt, wird der „Bürgerjournalismus“ verschwinden und einfach wieder Journalismus genannt.

Journalismus existiert als Teil einer Kultur, innerhalb einer Kommunität. Manchmal ist es die internationale Gemeinschaft. Für die meisten Journalisten ist es lokaler definiert. Unser Handwerk hat Bedeutung, weil die Zivilkultur der Kommunität eine Bedeutung hat. Nicht umgekehrt. Wenn diese Kommunität in unserem Journalismus keinen Nutzen sieht, nichts sieht, was es als Teil ihrer selbst anerkennt, eine Geschichte, an der sie teilhat, dann hat man als Journalist versagt, auch wenn man dem professionellen Standard genügt. Das öffentliche Erzählen einer Geschichte und die öffentliche Lösung eines Problems sind zwei Seiten derselben Medaille. Das ist, was die Kommunität von ihren Journalisten verlangen wird. Es ist, was Bürgerjournalismus jetzt schon sagt und die Medienunternehmen lernen müssen: daß ein Dienst in diesem Sinne einen Wert hat und die Leute dafür auch zu zahlen bereit sind.

Anmerkung: Seit den 80er Jahren wird zunehmend häufig das Wort „Community“ (Gemeinschaft, Gemeinde, Kommunität) benutzt in Zusammenhängen, in denen man früher von der „Society“ (Gesellschaft) gesprochen hätte. Der abstrakte, allumfassende Begriff wurde aufgegeben zugunsten eines (angeblich) konkreteren Wortes, das eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe meint. Dies steht nicht nur im Zusammenhang mit einer harmonisierenden Betrachtung der Gesellschaft, sondern auch mit dem von Dworkin und Buruma auf diesen Seiten diskutierten Legitimationsverlust des Konzepts von Universalität. In diesem Text habe ich das wenig präzise, aber doch ein bestimmtes Denken bezeichnende Wort „Kommunität“ benutzt, wo sich das unbestimmte „Community“ nicht anders auflösen ließ (z.B. Durch „Leserschaft“ etc.).U. Ruge

Jay Rosen ist Journalistikprofessor an der New York University. Diesem Text liegt ein Interview zugrunde, das der Medienredakteur Michael Foley von der „Irish Times“ mit ihm geführt hat.