: Neofaschisten und Separatisten
■ In Italien ergeben sich beim Prozeß um die „Besetzung“ der Piazza San Marco in Venedig überaus merkwürdige Allianzen
Mestre (taz) – Die Piazze in Mestre, elf Kilometer vor Venedig, sind natürlich nicht im entferntesten mit denen der Lagunenstadt zu vergleichen; auch der Platz vor dem „Tribunale“, dem Distriktsgericht, strahlt weder bauliche noch historische Attraktivität aus. Und dennoch; was sich da gestern vormittag abspielte, hat alle Merkmale einer geradezu historisch anmutenden Verbrüderung: junge Neofaschisten der „Azione giovane“, ansonsten unbeugsame Verfechter strammer Zentralstaatlichkeit, halten in der einen Hand die grünweißrote italienische Fahne – und in der anderen das orangefarbige Banner mit dem weißen Löwen, das Symbol der venezianischen Separatisten, die vor vier Wochen mit der „Besetzung“ der Piazza San Marco mit Hilfe eines selbstgebastelten Panzers und dem Erklimmen des Campanile das Fanal zur Ausrufung der Unabhängigen Republik Venedig gegeben hatten. Sie stehen nun in Mestre vor Gericht.
„Erst dachte ich, jetzt gibt's Zoff“, wundert sich Germano Vitellon, ein Fan der Turmbesetzer, als er die Rechten aufmarschieren sah, „weil die Faschisten doch bisher jedem, der auch nur ein wenig Föderalismus will, Prügel angedroht haben.“ Aber nichts da: Als seien sie seit jeher enge Kumpel, verlangen die Rechten vom Gericht „ein Urteil ohne Haß und Verfolgungswut“, ein paar Monate allenfalls für einen Bubenstreich. Denn „im Grunde“, so Raffaele Speranzon von der „Azione giovani“, „sind diese Burschen echte Patrioten: Sie kämpfen für ihre Heimat“. So sehen das auch die meisten Italiener: Fast 60 Prozent wünschen sich milde Strafen.
Den Separatisten kommt derlei einerseits gelegen, weil es zeigt, daß die Turmkletterer keine isolierten Spinner sind; andererseits aber kommt ihnen der Feind abhanden. „Wahrscheinlich wollen die Rechten endlich auch in unserer Gegend ein paar Punkte sammeln“, vermutet Wilfredo Voltan, der seit Jahren in einem „veneto- friulanischen Freiheitszirkel“ arbeitet: „Bei den Wahlen kriegen die kaum mal drei, vier Prozent, jetzt sehen sie ihre Chance.“
So müssen sich die Separatisten andere Feinde suchen, um in die Zeitungen zu kommen. Etwa die Neokommunisten der Rifondazione comunista, die den Zentralstaat ebenso heftig verteidigen wie vormals die Rechte: Am Wochenende gab es Schlägereien, gestern bewarfen anarchistische Gruppen die Separatisten mit Steinen.
Aber auch die anderen politischen Kräfte bieten sich als rotes Tuch an. Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro hat die Richter aufgefordert, „nunmehr endlich eine klare Trennlinie zwischen politischer Meinungsäußerung und offenem Aufruf zur verfassungsfeindlichen Abtrennung von Gebieten unserer Nation zu ziehen“. Regierungschef Romano Prodi fuchtelt mit einem angeblich alles lösenden Vorschlag zur Einführung eines föderalen Systems herum – den aber noch niemand kennt.
Währenddessen kämpfen im Gerichtssaal die Verteidiger darum, das Verfahren im „Rito abbreviato“ durchführen zu können, bei dem es keine Zeugenvernehmungen gibt und die Strafen von vornherein um ein Drittel reduziert werden. Das allerdings bringt die Hunderte von Sympathisanten auch wieder in Zwiespalt: Einerseits wollen sie natürlich, daß ihre Vorkämpfer nicht für 15 Jahre oder mehr ins Gefängnis müssen; andererseits aber hätten sie gerne in einer öffentlichen Verhandlung den römischen Staat vorgeführt.
Kurz vor Mittag verkündet das Gericht, daß die Verhandlung nun doch nicht im abgekürzten Verfahren durchgeführt wird. Die Sympathisanten und die Neofaschisten jubeln. Die Einigkeit wird wohl noch einige Zeit dauern. Werner Raith
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