Warten auf die Heuschrecken

Frank und Dagmar Dieterich gehen betteln um Betten. Rund 100.000 Menschen sollen zum 27. Evangelischen Kirchentag in Leipzig kommen  ■ Von Alexander Friebel

Der rote Aufkleber an der Wohnungstür ist nur schwer zu übersehen. „Für Vertreter klingeln verboten!“ Frank Dieterich tut es trotzdem, denn was er vertritt, hat mit Staubsaugern oder Lebensversicherungen so gar nichts gemein.

Hinter der Tür in der dritten Etage raschelt es. „Guten Tag allerseits, ich komme vom Kirchentag.“ Ein junger Mann in Trainingshosen äugt mißtrauisch durch den schmalen Spalt. „Dieterich mein Name. Sie haben doch noch ein Bett frei? Oder vielleicht ein altes Sofa in der Abstellkammer?“ Der Umworbene schüttelt stumm den Kopf und beeilt sich, dem netten Herrn im Treppenhaus die Tür vor der Nase zuzuwerfen.

„Schönen Tag noch.“ Frank Dieterich grüßt gegen das Holz und steigt die Stufen hinab. Seit Wochen ist er im Waldstraßenviertel von Leipzig mit Ehefrau Dagmar Dieterich auf Achse, um für Besucher des kommenden Kirchentages Privatquartiere zu finden. Mit einem Packen Handzettel unterm Arm und dem Motto „Im Stehen schläft man schlecht“ im Kopf, putzen sie Klinken – nach Feierabend, ehrenamtlich und unermüdlich. „Es kommen etwa fünfzehn Absagen, bevor wir ein freies Bett finden.“

Noch sind knapp zwei Wochen Zeit, bis der 27. Deutsche Evangelische Kirchentag – um mit den Worten Richard von Weizsäckers zu sprechen – „wie ein Heuschreckenschwarm über die unschuldige Großstadt“ hereinbricht. Noch ist es ruhig in Leipzig, doch hinter den Kulissen hat das große Zittern längst begonnen. Die Stadtverwaltung rechnet mit einem fünftägigen „Ausnahmezustand“, die Leipziger Verkehrsbetriebe erwarten mehr als eine Million zusätzlicher Fahrgäste und die Verantwortlichen des Kirchentagsvereins, die schüttelt seit geraumer Zeit die Vorfreude. „Diese Veranstaltung wird einzigartig“, weiß Generalsekretärin Margot Käßmann, „weil hier der erste wirklich gesamtdeutsche Kirchentag seit der Wende stattfindet“. Auch Christian Wolff, Pfarrer der Thomaskirche, sieht allen Grund zum Jubilieren. „Endlich hat der Kirchentag wieder eine politische Aussage. Wenn alles gelingt, dann wird das ein Jahrhundertereignis.“

Auf dem Boden der Tatsachen kämpft sich Frank Dieterich im Zeichen des Jerusalemer Kreuzes von Tür zu Tür. Bei den sanierten Häusern aus der Gründerzeit ist bereits an der Sprechanlage Endstation. Zwar spricht er freundlich sein Verslein in das goldfarbene Mikrofon, aber die Tür bleibt verschlossen. „Das ist ein Geduldsspiel“, brummelt er und schiebt seinen Bauch um die nächste Straßenecke. Wie ein geschniegelter Staubsaugervertreter sieht er wirklich nicht aus, dieser Mann, der sein Hemd einen Knopf zu weit aufgeknöpft hat, der eine ausgewaschene Jeans am Leib und eine rote Brille auf der Nase trägt. In einem Jugendheim wird er dann wenigstens ein Zettelchen los, und eine Angestellte verspricht, ihren Chef nach einem freien Zimmer zu fragen. Immerhin ein Anfang und ein lauwarmer Händedruck.

Kaum 15 Prozent bekennende Christen leben in der Messestadt Leipzig. Kein Wunder, daß da nicht alles glatt läuft bei der Organisation eines Kirchentages. Fast 1.500 Privatunterkünfte müssen in kurzer Zeit aus dem Hut gezaubert werden, und keiner weiß so recht wie. Auch bei den 50.000 Gemeinschaftsbetten gilt wohl das Prinzip Hoffnung, denn weiterhin fehlen 100 freiwillige Helfer. Und in vielen der 250 bereitgestellten Schulen fragt man sich, wer die Gäste betreuen soll.

Wie viele Gläubige überhaupt anrollen werden, ist unbekannt. Mit 125.000 Dauergästen rechnete man erst, jetzt wurde die Zahl auf 100.000 herunterkorrigiert. Margot Käßmann, Generalsekretärin des Kirchtagsvereins, meint, das liege an der Null-Bock-Stimmung mancher Westdeutscher, zu einem Kirchentag in die neuen Länder zu kommen. Nicht selten würden Zweifel geäußert, „ob man da auch anständig untergebracht wird“. Doch trotz aller Skepsis im Osten – fünf von sechs Gästen werden von Rhein, Main oder Mosel kommen.

Frank Dieterich ist auch so einer. Im Oktober 1990 hat es den Fahrlehrer von Heidelberg nach Leipzig verschlagen, natürlich war Liebe im Spiel. Sieben „turbulente“ Jahre im Osten habe er hinter sich, von seinen West-Freunden sei er bereits zu weit entfernt, „ohne aber im Osten richtig angekommen zu sein“. In Leipzig habe er beschlossen, als überzeugter Sozi den „Arsch hoch zu kriegen“. Hier hat er voriges Jahr die „Leipziger Tafel“ ins Leben gerufen, um bedürftigen Menschen kostenlos Lebensmittel zu besorgen. Zur „Familie der Ehrenämter“ gehört auch seine Frau Dagmar Dieterich, die ist als Stadtbezirksrätin für die SPD ins Rennen gegangen.

Hand in Hand arbeiten die beiden in Sachen Kirchentag. Für die Gemeinde der Thomaskirche ist Frank Dieterich der Quartierbeauftragte und damit für drei Schulen und etwa 800 Gäste zuständig. Dagmar Dieterich wird in einer Gemeinschaftsunterkunft für 300 Menschen Kaffee kochen, was ihr schon heute Kopfschmerzen bereitet. Nebenbei werden sieben Gäste daheim abgefrühstückt – vier in der eigenen Wohnung und drei bei der Schwiegermutter.

Für manche ist das noch gar nichts. Petra Müller aus Rötha bei Leipzig hat zwar schon neun Kinder. Aber zum Kirchentag will sie für acht Schlafgäste die Kinderzimmer räumen. „Das wird bestimmt cool“, meint sie, „ich mag Trubel im Haus“. Und der Nachwuchs freut sich mit – nur Undine, die ihr Zimmer mit den Fanpostern von der Kelly-Family räumen muß, ist ein wenig unterkühlt.

Acht Betten auf einen Streich. Weil das dem Kirchentagsverein nur selten gelingt, wird die „gastfreundlichste Familie der Region“ zum Schlemmerfrühstück ins Hotel Kempinski geladen – an eine lange Tafel im 200 Jahre alten Serpentinsaal. Schwarzer Marmor an den Wänden, rote Samtvorhänge, gedämpftes Licht. Für ein paar Minuten erlebt Petra Müller ihre Kinder mal anders – schüchtern und ruhig. Bis der 5jährige Naveed- Vincent eine Portion Pfeffer schluckt, Anne ein halbes Baguette quer in den Mund schiebt und die anderen um den Tisch toben.

Mittendrin im Gewusel sitzt Peter Sodann, von Beruf Tatort- Kommissar und Intendant des neuen Theaters in Halle. Seit Wochen ist er Schirmherr der Quartieraktion für den Kirchentag, steht sich im Einkaufspark Großpösna die Hacken platt, verschenkt Armeeliegen und rührt die Werbetrommel. Für die Nichtchristen der Region will er Vorbild sein. Einer, der mit der Kirche auch nichts am Hut hat und den Westdeutschen zeigt, „daß wir hier im Osten nicht mit Messern im Schnabel herumlaufen“. Daß durch Leipzig nicht jeden Tag der Mob tobt, heißt das.

Verständigungsarbeit ist angesagt, damit auf allen Seiten Vorurteile abgebaut werden. „Wir suchen den Dialog zwischen Ost und West, Christen und Nichtchristen, Jungen und Alten“, erklärt Generalsekretärin Käßmann hoffnungsfroh. „Wir packen Themen an, die unter den Nägeln brennen.“ Endlich mal über alles reden, über Gott und die Welt, und wer nicht will, geht zur Techno-Messe und läßt sich die Ohren volldröhnen.

„Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben“, der Appell zur Versöhnung zieht sich wie ein roter Faden durch die 2.000 Veranstaltungen. Doch Versöhnung fällt manchen nicht leicht in Leipzig. Da sagt der für Bibelarbeit vorgesehene Umweltminister Arnold Vaatz (CDU) plötzlich wieder ab, weil ihm der Prediger des Abschlußgottesdienstes, Probst Heino Falcke, politisch nicht paßt. Falcke, schrieb der Minister, habe als Mitunterzeichner der „Erfurter Erklärung“ zum Sturz des politischen Systems Kohl aufgerufen. Die Protestresolution gegen die Bundesregierung hatte eine Einbeziehung der PDS in ein breites Oppositionsbündnis gefordert. Ob man sich an einen Tisch setzen soll mit den Vertetern der SED-Nachfolgepartei, bezweifeln die Vertreter des Leipziger Bürgerkomitees. Sie kritisieren das „Versöhnungsgehabe“ des Kirchentags. Für Mathias Oelke von der sächsischen Landeskirche in Dresden ist gar das ganze kirchliche Umfeld in Leipzig „eine Katastrophe“.

Schwachsinn, meint Frank Dieterich, bevor er auf die letzten Klingelknöpfe des Tages drückt und noch einmal um Quartier bettelt. Immer wieder hört er die gleichen Entschuldigungen, immer ist die Wohnung zu klein, schon Besuch da oder irgendein außergewöhnliches Ereignis dazwischengekommen. „Sonst jederzeit“, meint eine ältere Frau und weiß wohl selbst nicht so genau, wann das sein soll, während sich ihr Pudel kläffend an Dieterichs Hosenbein zu schaffen macht. „Leipzig wird den Kirchentag so stark beeinflussen wie selten eine Stadt zuvor“, sagt Margot Käßmann. Daß noch lange nicht alles unter Dach und Fach ist, bringt ihr 80köpfiges Team nicht aus der Ruhe. „Ein Kirchentag“, wußte schon der frühere Generalsekretär Hermann Walz, „heißt 60 Prozent Organisation und 40 Prozent Improvisation.“ Da ist alles möglich und wenig planbar. Und was wirklich los sein wird, wenn 100.000 Gläubige bei den überwiegend ungläubigen Messestädtern einfallen, weiß ohnehin keiner. Ob es wird wie 1954, als während des letzten gesamtdeutschen Kirchentages in Leipzig 650.000 Menschen und überhaupt die ganze Stadt samt Straßenbahnen nicht aufhörte zu singen und zu feiern, trotz Regen, trotz Ulbricht?

Am Ende seiner Tour durch die Leipziger Wohnblocks zieht Quartiermeister Frank Dieterich Bilanz. „Beschämend heute“, meint er nur. Vielleicht fünfzigmal geklingelt, gefragt, gebettelt. Gebracht hat es nichts.

„Bei der vorletzten Familie habe ich ein gutes Gefühl“, sagt Dagmar Dieterich und bemüht sich, ein bißchen positive Stimmung zu verbreiten.

Frank winkt ab, zieht an der filterlosen Zigarette und bläst den Frust in den Wind. Was kommt in zwei Wochen, kann nur besser werden.