Ärzte protestieren gegen Einkommenskollaps

■ 3.000 Ärzte gingen in Mecklenburg-Vorpommern auf die Straße. Weil sie zuviel verschrieben haben, sollen sie jetzt Mehrausgaben an Krankenkassen zurückzahlen

Berlin (taz) – Die Ärzte in Mecklenburg-Vorpommern rufen den Notstand aus. Rund 3.000 von ihnen gingen gestern – unterstützt von Pflegepersonal und Apothekern – in Schwerin auf die Straße und machten ihrem Ärger im Streit um das Arznei- und Heilmittelbudget Luft. In der Nacht zuvor hatten Vertreter der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) acht Stunden lang erneut ohne Ergebnis verhandelt. Sozialminister Hinrich Kuessner (SPD) ordnete ein Schiedsverfahren an, in dem jetzt ein Kompromiß gefunden werden muß.

Glaubt man den Standesvertretern der Mediziner, steht ein beträchtlicher Teil der Kassenärzte vor dem finanziellen Kollaps. Zuerst werden die Vertragsärzte in Mecklenburg-Vorpommern in den Bankrott treiben. Im Rausch der Rezeptverordnungen haben sie sich in ein Dilemma hineinmanövriert. Sie überschritten drastisch das gedeckelte Budget für Arznei- und Heilmittel. Allein im Jahr 1995 gaben sie 87 Millionen Mark mehr aus, als zwischen gesetzlichen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen verabredet ist. Nun fordern die Kassen diese nicht vereinbarten Mehrausgaben zurück.

Seit Mai behalten sie monatlich 5 Millionen Mark an Honorarüberweisungen ein. Pro Arzt seien dies 2.000 Mark weniger an Honorar, klagt Detlef Hamer, Pressesprecher der KV in Schwerin. Die Ärzte in der Region gehen nach seiner Rechnung bereits heute am Bettelstab. „Vor Steuern kommt ein Kassenarzt auf ein Jahreseinkommen von 45.600 Mark“, meint der KV-Mann. Nachprüfbar sind diese Zahlen nicht. Allein die KVen wissen, wie hoch die Einnahmen der einzelnen Ärzte sind. Den Krankenkassen machen sie keine Meldung darüber. Branchenkenner schätzen den durchschnittlichen Jahresverdienst eines Ost-Doktors auf 120.000 Mark. Dennoch wird Standesvertreter Hamer von einem Horrorszenario geplagt: Kürzen die Kassen wie angekündigt die Honorare, müßte jede vierte Praxis in seinem Sprengel dichtmachen. Die Regreßforderungen sollen kollektiv eingetrieben werden, gleichgültig ob ein Arzt sparsam oder verschwenderisch verschreibt. Ob eines solchen Anliegens reagieren die Mediziner gereizt. „Einige schicken die Patienten zu uns, damit wir die vorgesehenen Medikamentenverordnungen abstempeln, bevor sie das Rezept ausstellen“, sagt AOK- Pressesprecher Lack aus Schwerin. Dabei wüßten die Ärzte, daß eine Krankenkasse dazu kein Recht habe. In dem „bewußten unnützen Papierkrieg“ ist einer der Leidtragende: der Patient. Dabei hätten die meisten Ärzte sich die Aussicht auf den Ruin ersparen können, meint AOK-Vertreter Lack. Seine Krankenkasse hat eine Untersuchung von einer Million Rezepten in Auftrag gegeben. Ergebnis: „Die Ärzte in Mecklenburg-Vorpommern verordnen zuviel und zu teuer.“ Medikamente aus dem oberen Preisdrittel trieben die Ausgaben in die Höhe. Bei kostengünstigerer Verordnung ließen sich 20 Prozent einsparen. Aber niemand kann Ärzte zwingen, billigere Medikamente zu verschreiben. Deswegen setzt die AOK auf Einsicht. In einem Modellversuch geben inzwischen sechs Apotheker aus Mecklenburg-Vorpommern niedergelassenen Medizinern fachliche Nachhilfe im kostengünstigeren Verschreiben von Medikamenten. So will die AOK nachweisen, daß sich Überschreitungen des Arzneimittelbudgets vermeiden lassen. Annette Rogalla